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Tierversuchsgegner fordern eine komplette Einstellung aller Tierversuche für wissenschaftliche Zwecke. Ist das möglich und auch sinnvoll?
Wer hat eine Bekannte, die Brustkrebs überlebt hat? Wer lässt sich jedes Jahr gegen die Grippe impfen? Wer nimmt regelmäßig die Anti-Baby-Pille oder ab und zu Kopfschmerztabletten? Und wer wurde schon mal operiert und erhielt dabei eine Bluttransfusion? All diese medizinische Fortschritte wurden in Tierversuchen getestet, bevor sie für den Einsatz am Menschen zugelassen wurden. Würden wir auf solche Fortschritte verzichten wollen? Oder könnte die Forschung auch ohne Tierversuche auskommen?
Tierversuche – ein Thema, das stark polarisiert. Auf der einen Seite weisen Tierversuchsgegner auf die Rechte der Tiere hin und fordern, dass alle Tierversuche gestoppt werden. Auf der anderen Seite sind viele Forscher der Meinung, dass medizinischer Fortschritt ohne Tierversuche nicht möglich sei. Dazwischen steckt die Öffentlichkeit in einem moralischen Dilemma. Tierversuche – ja oder nein? Bilden Sie sich ihre eigene Meinung. science.lu geht auf einige Fragen und Kritikpunkte rund um Tierversuche ein und nimmt auch die Situation in Luxemburg unter die Lupe.
Das EU Unionsgesetz verpflichtet dazu, Produkte und Stoffe an Tieren zu testen. Um die Rechte der Menschen zu schützen, die bei nachfolgenden klinischen Studien mitmachen. Tierversuchsgegner hingegen fordern eine Gleichstellung der Würde der Tiere mit der des Menschen und eine Einstellung aller Tierversuche. Ihre Argument: Tierversuche seien grausam und irrelevant (siehe science.lu Special 1); es gäbe Alternativen (siehe science.lu Special Teil 2). Wie sieht die Zukunft aus? Wäre es tatsächlich möglich – und auch sinnvoll – komplett auf Tierversuche zu verzichten?
Wie sieht die Zukunft aus?
In Luxemburg wurden 2014 zwei Petitionen mit 5.414 bzw. 6.140 Befürwortern beim Parlament eingereicht1,2, die eine Überarbeitung des hiesigen Tierschutzgesetzes von 1983 und eine Abschaffung aller Tierversuche fordern. Laut dem Lëtzebuerger Journal war der Landwirtschaftsminister diesen Forderungen damals positiv gesinnt und redete von einem neuen Gesetzesentwurf für Anfang 2015. Schwieriger wäre es beim Thema Tierversuche, da hier vieles auf europäischen Direktiven beruhe, so Fernand Etgen damals im Journal3. Zur Erinnerung: wie wir im 2. Teil des science.lu Special gesehen haben, sind Tierversuche in der EU aktuell durch die Direktive 2010/63/EU4 streng geregelt.
Im Jahr 2015 forderte die EU Citizens Initiative „Stop Vivisection“ eine neue Richtlinie zur vollständigen Einstellung aller Tierversuche. 1,17 Millionen Menschen in 26 Mitgliedstaaten unterschrieben. Es war die dritte erfolgreiche Citizens Initiative, die bei der EU angehört wurde5. In ihrer Antwort auf die Unterschriftenaktion unterstreicht die EU, dass in der Richtlinie 2010/63/UE die vollständige Einstellung von Tierversuchen als endgültiges Ziel angegeben wurde, räumt jedoch ein, „dass diese bis zur Erreichung dieses Ziels immer noch notwendig sind.“6 Ein Außerkraftsetzen der Richtlinie würde den Einsatz von Tieren in Versuchen nicht verhindern, sondern vielmehr die Art und Weise deregulieren, in der solche Versuche durchgeführt werden. „Ein verfrühtes Verbot von Forschungsarbeiten mit Tieren in der EU dürfte dazu führen, dass die biomedizinische Forschung und die entsprechenden Tests in Länder außerhalb der EU verlagert werden, in denen die Tierschutzstandards möglicherweise niedriger sind“, so die EU in ihrer Antwort.
In der Zwischenzeit werden europa- und auch weltweit verstärkt alternative Methoden erforscht, entwickelt und auch eingesetzt (mehr zu Alternativen im 2. Teil des science.lu Specials).
Kann man die Frage Tierversuche – ja oder nein – überhaupt pauschal beantworten?
Beim Thema „Tierversuche“ denken viele Menschen sofort an Bilder von leidenden Hunden, Katzen oder Affen. Katzen und Hunde sind beliebte Haustiere und viele Menschen wollen nicht, dass eine Katze oder ein Hund leiden muss. Kurz gesagt: Emotionen spielen eine groβe Rolle beim Thema Tierversuche.
Laut Statistiken der europäischen Kommission6 ist allerdings nur 1 von 500 Versuchtstieren (0.002%) eine Katze oder ein Hund. 77% der Tiere, die 2011 in der EU für wissenschaftliche Zwecke benutzt werden, waren Mäuse, Ratten oder andere Nagetiere. Andere gängige Versuchstiere sind z.B. Zebrafische.
Nichtsdestotrotz sind auch diese Tiere empfindsame Wesen. Manche Menschen sind grundsätzlich gegen Tierversuche, weil sie denken, dass jedes Tier ein Recht hat zu leben und nicht zu leiden. Sie fordern die Würde aller Tiere der des Menschen gleichzustellen.
Auf die Frage des Eurobarometers 2010 „ob man Wissenschaftlern Experimente mit Tieren wie Hunden und Schimpansen gestatten sollte, wenn das bei der Heilung menschlicher Krankheiten helfen kann“ sprachen sich auf EU27-Ebene 44% der 26671 Befragten dafür aus und 37% hatten eine ablehnende Haltung. In Luxemburg erklärten damals nur 29% ihre Zustimmung für diese Art von Tierversuchen (1017 Befragte)7. Wird die gleiche Frage für den Gebrauch von Mäusen gestellt ist das Ergebnis anders: durchschnittlich 66% der befragten Europäer sagen dann „Ja“ zu Tierversuchen. In Luxemburg bleibt die Meinung reserviert: Nur 32% waren mit Tierversuchen an Mäusen einverstanden.
Die öffentliche Meinung in Europa ist also sehr länderabhängig, und variiert stark je nachdem um welches Tier es geht. Ist die Öffentlichkeit genügend über das Thema informiert, um abwägen zu können? Oder war die Antwort im Eurobarometer rein emotional gesteuert? Die Ergebnisse deuten an, dass die Frage „Tierversuche, ja oder nein?“ nicht pauschal beantwortet werden kann. Vielleicht fehlt es aber auch an Aufklärung über das Thema und klareren Kriterien für Tierversuche.
Denn Forschung ganz ohne Tierversuche würde beispielsweise bedeuten, dass neue Produkte und Stoffe sofort an Menschen getestet werden. Würden sich genug Freiwillige für eine klinische Studie über ein neues Medikament melden, das vorher nur in Computermodellen oder im Reagenzglas untersucht wurde? Oder um eine neue chirurgische Methode zu testen, die für ihre eigene Gesundheit nicht notwendig ist? Wären Tierversuche mit Nagetieren akzeptabel, Versuche mit Hunden und Affen aber nicht?
Viele Tierversuchsgegner argumentieren, dass manche Krankheiten durch einen gesunden Lebensstil vorgebeugt werden könnten. Doch bei genetisch bedingten Erbkrankheiten wie Mukoviszidose helfen auch die besten Vorraussetzungen nicht, denn sie wird ausgelöst durch einen angeborenen Fehler im Erbmaterial. Um solche Krankheit zu heilen, versuchen Forscher (ebenfalls mithilfe von Tierversuchen) eine sogenannte Gentherapie zu entwickeln, die den Gendefekt künstlich korrigiert8.
Endziel der EU Direktive 2010/63/UE ist es, Tierversuche komplett durch Alternativen zu ersetzen. Ob eine pauschale Entscheidung für oder gegen Tierversuche möglich ist und auch Sinn macht, bleibt fraglich. Vielmehr handelt es sich wahrscheinlich um eine Abwägung von Fall zu Fall.
In der Zwischenzeit können beide Seiten – Tierversuchsgegner und Forscher – versuchen sich gegenseitig besser zu verstehen und die Öffentlichkeit transparent aufzuklären.
Weitere Fragen
Autor: science.lu
Photo: shotshop.com
Quellen
3. http://www.journal.lu/top-navigation/article/ein-hund-ist-kein-stuhl/
4. http://ec.europa.eu/environment/chemicals/lab_animals/legislation_en.htm
5. http://www.stopvivisection.eu/
6. http://ec.europa.eu/citizens-initiative/public/initiatives/successful/details/2012/000007
7. http://ec.europa.eu/environment/chemicals/lab_animals/reports_en.htm
8. http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_340_de.pdf
9. http://www.animalresearch.info/de/medizinischer-fortschritt/krankheiten-und-forschung/cystic-fibrosis/
Infobox
- Tierversuche sind in der EU gesetzlich geregelt – auch in Luxemburg.
- In der EU dürfen Tierversuche nur durchgeführt werden, wenn für die gleiche Fragestellung keine anerkannten alternativen Methoden benutzt werden können.
- Seit 2013 ist es europaweit verboten, Kosmetika oder deren Inhaltsstoffe an Tieren zu testen.
- Die Forschung an Menschenaffen (Orang-Utans, Bonobos, Gorillas und Schimpansen) ist seit 2010 durch die EU Direktive verboten – ausser im Falle einer schweren den Menschen bedrohenden Krankheit (wie beispielsweise eine neue Ebola-Variante).
- Im Jahr 2011 wurden in 27 EU Mitgliedstaaten 11,5 Millionen Tiere für wissenschaftliche Zwecke benutzt; eine halbe Million weniger als 2008. In beiden Jahren waren rund 75% der Tiere Mäuse und Ratten.