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Bluttransfusion, Impfstoffe oder Intensivpflege für Neugeborene – viele Durchbrüche der Medizin basieren auf Tierversuchen. Warum eigentlich?
Wer hat eine Bekannte, die Brustkrebs überlebt hat? Wer lässt sich jedes Jahr gegen die Grippe impfen? Wer nimmt regelmäßig die Anti-Baby-Pille oder ab und zu Kopfschmerztabletten? Und wer wurde schon mal operiert und erhielt dabei eine Bluttransfusion? All diese medizinische Fortschritte wurden in Tierversuchen getestet, bevor sie für den Einsatz am Menschen zugelassen wurden. Würden wir auf solche Fortschritte verzichten wollen? Oder könnte die Forschung auch ohne Tierversuche auskommen?
Tierversuche – ein Thema, das stark polarisiert. Auf der einen Seite weisen Tierversuchsgegner auf die Rechte der Tiere hin und fordern, dass alle Tierversuche gestoppt werden. Auf der anderen Seite sind viele Forscher der Meinung, dass medizinischer Fortschritt ohne Tierversuche nicht möglich sei. Dazwischen steckt die Öffentlichkeit in einem moralischen Dilemma. Tierversuche – ja oder nein? Bilden Sie sich ihre eigene Meinung. science.lu geht auf einige Fragen und Kritikpunkte rund um Tierversuche ein und nimmt auch die Situation in Luxemburg unter die Lupe.
Als Tierversuch wird in dieser Artikelserie ein Experiment bezeichnet, das unter kontrollierten Laborbedingungen an lebenden Tieren durchgeführt wird, um Antworten auf Forschungsfragen zu erlangen (für eine genauere Definition, siehe Infobox).
Weshalb werden Tierversuche überhaupt durchgeführt?
Tierversuche gibt es bereits seit Jahrhunderten und sie haben dazu beigetragen, unser Wissen über das Funktionieren des Körpers (von Mensch und Tier) zu erweitern. Forscher an öffentlichen und privaten Einrichtungen führen Tierversuche durch, um besser zu verstehen, wie Krankheiten entstehen und wie man diese behandeln könnte. Mit dem Argument, dass bestimmte Prozesse nur in einem lebenden Organismus untersucht oder getestet werden können. Obwohl diese Versuche auch Tieren dienen, die unter ähnlichen Krankheiten wie Menschen leiden, geht es bei diesen Versuchen primär darum, die Gesundheit und Lebensqualität des Menschen zu verbessern.
Mit der Anzahl und Vielfalt an Tierversuchen steigt die Anzahl an Protesten der Tierversuchsgegner. Ihre Argumente: Tierversuche seien grausam und nicht nötig; Forscher führten Tierversuche nur durch, um in ihrer Gemeinschaft und in der Gesellschaft Ruhm und Anerkennung zu erlangen, sowie aus wirtschaftlichen Zwecken. Sie verweisen auf Artikel 13 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union der besagt, „dass dem Wohlergehen der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung zu tragen ist“.1Soll heißen: Wir haben eine moralische Verpflichtung, die fundamentalen Rechte der Tiere zu respektieren.
Dem gegenüber steht eine andere Verpflichtung aus dem EU Unionsgesetz: „Um die Risiken für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt zu bewältigen, ist im EU Unionsrecht vorgesehen, dass Stoffe und Produkte erst in Verkehr gebracht werden dürfen, nachdem angemessene Angaben zur Unbedenklichkeit und Wirksamkeit vorgelegt wurden.“ Konkret bedeutet das z.B., dass für neue Medikamente untersucht werden muss, ab welcher Dosis sie giftig und/oder wirksam sind, bevor sie an Menschen verabreicht werden. Einige dieser Anforderungen könnten nur mit Hilfe von Tierversuchen erfüllt werden, so auch die EU Richtlinie 2010/63/EU, die zur Regelung der Tierversuche ausgearbeitet wurde2. Weshalb?
In der biomedizinischen Forschung werden unterschiedliche Methoden für Experimente benutzt: Computermodelle und -simulationen („in silico“), chemische Reaktionen im Reagenzglas („in vitro“), Zellkulturen (ebenfalls „in vitro“), oder Studien des Körpers von lebenden Tieren und Menschen („in vivo“).
Einige Effekte können (noch) nicht im Reagenzglas oder am Computer gemessen oder simuliert werden, da diese Methoden nicht die Komplexität eines Lebewesens wiederspiegeln. Die Verdauung kann z.B. die Wirkung eines Medikaments, das geschluckt wird, beinträchtigen. Ein Medikament kann unerwünschte Nebeneffekte wie Bluthochdruck oder Schäden an Leber, Nerven oder anderen Organen verursachen. Tierversuche liefern einen starken Hinweis darauf, welche Auswirkungen das Medikament beim Menschen haben könnte. Sie finden aber nur dann statt, wenn es keine tierversuchsfreie Testverfahren gibt oder Ergebnisse aus Experimenten mit den anderen Methoden darauf hindeuten, dass sie zusätzliche nützliche Informationen liefern könnten.
Wie relevant sind Tierversuche im Vergleich zu anderen Methoden?
Tierversuchsgegner (und auch einige Forscher) sind der Meinung, dass Ergebnisse aus Tierversuchen nicht auf den Menschen übertragbar seien. Warum nicht? Sie argumentieren, dass Mensch und Tier zu unterschiedlich seien und es deshalb keinen Sinn mache, Medikamente an Tieren zu testen.
Die Mehrheit der Tiere die für wissenschaftliche Zwecke benutzt werden sind Säugetiere; Mäuse, Ratten und andere Nager sind dabei mit rund 77% die bevorzugten Arten in Europa3. Mensch und Säugetier teilen durchschnittlich 85% ihrer Gene, aus denen Proteine entstehen (Proteine führen die eigentlichen Körperfunktionen aus)4. Maus und Mensch haben die gleichen Organe, die auf ähnliche Art und Weise gesteuert werden – hauptsächlich über das Blutkreislauf- und das Nervensystem. Auβerdem haben Mensch und Säugetier einen gemeinsamen Urahn.
Auf genetischer Ebene sind sich Maus und Mensch also sehr ähnlich.
Aber es gibt auch einige Unterschiede zwischen den Tieren, die hauptsächlich in der Forschung eingesetzt werden, und Menschen:
- Labortiere haben nicht die gleiche genetische Vielfalt wie die menschliche Bevölkerung. Labortiere, insbesonders Nagetiere, werden fast immer speziell für Tierversuche gezüchtet. Oft werden die gleichen Mäusestämme benutzt, die sich genetisch untereinander sehr ähneln. (Das erleichtert den Forschern Effekte festzustellen, die z.B. durch eine Mutation – eine Veränderung im Erbmaterial – oder durch eine neue Behandlung hervorgerufen werden).
- Die sogenannten „Tiermodelle“, die Forscher oft benutzen um bestimmte Krankheiten wie z.B. Krebs oder Diabetes und deren Behandlung zu untersuchen, spiegeln nicht immer das gleiche Krankheitsbild wie beim Menschen wieder. Diese Tiere entwickeln meistens eine ähnliche Krankheit durch eine genetische Veränderung oder nachdem die Krankheit künstlich ausgelöst wird. Forscher müssen bei der Planung ihrer Experimente darauf achten, dass Tiermodelle nur für bestimmte Fragestellungen geeignet sind.
- Labortiere, speziell Nager, werden oft in verhältnismäβig jungem Alter in Tierversuchen eingesetzt. Krankheiten wie Krebs oder Herzkreislaufkrankheiten befallen hingegen eher ältere Menschen5.
Tierversuchsgegner sind deshalb der Meinung, dass gezüchtete Labortiere und Tiermodelle kein realistischens Bild darstellen und deshalb keine relevanten Ergebnisse liefern.
Dies könnten auch Gründe sein, weshalb viele potenziellen neuen Medikamente in Tierversuchen vielversprechend aussehen, und später in klinischen Studien an Menschen scheitern. Obwohl diese in der vorklinischen Phase immer an mindestens zwei verschiedenen Arten getestet werden müssen (in der Regel ein Nagetier wie Maus oder Ratte und ein anderes Säugetier wie Hund oder Affe).
Ein neues Medikament wird laut der European Animal Research Association (EARA) an ungefähr 15 mal so vielen Menschen getestet wie Tieren6. In klinische Studien wird ein neues Medikament generell an mehreren tausend Freiwilligen getestet, bevor es auf den Markt kommt.
Doch auch nach Zulassung eines Medikaments können Nebenwirkungen bei einzelnen Patienten auftreten. Seltene Nebenwirkungen (z.B. bei 1 von 10.000 Patienten) sind schwer im Laufe der vorherigen klinischen Studie zu erforschen, da hier in der Regel nur einige tausend teilnehmen. So werden ab und zu Medikamente nach ihrer Zulassung wegen Nebenwirkungen aus dem Verkehr gezogen, die zuvor weder in Tierversuchen noch in klinischen Studien an Menschen aufgetreten sind. Insgesamt ist diese Zahl allerdings relativ niedrig: laut EARA wurden von 2,000 Medikamenten, die seit 1961 auf dem Markt sind, in Großbritannien, den USA, Frankreich oder Deutschland nur insgesamt 40 wegen schweren Nebenwirkungen zurückgezogen7.
Tierversuche sind also nur eine Option im „Werkzeugkasten“ des Forschers und nur eine Zwischenetappe in dem langen Prozess von der Entdeckung eines neuen potenziellen Medikaments bis zu seiner vollständigen Zulassung.
Medizinischer Fortschritt dank Tierversuchen?
Ob Impfstoffe, Insulin, Bluttransfusionen und Intensivpflege für Neugeborene – sie alle wurden mithilfe von Tierversuchen entwickelt oder perfektioniert und sind aus unserem heutigen Leben nur schwer wegzudenken8. Neben verbesserter Hygiene und Ernährung haben sie sicherlich dazu beigetragen, dass unsere Lebenserwartung im letzten Jahrhundert merklich gestiegen ist.
Einen direkten Zusammenhang zwischen einem einzelnen Tierversuch und dem Nutzen für Menschen zu machen, ist nicht immer einfach. Außer vielleicht beim Beispiel Organtransplantation. Patienten, die mit einem Herzklappenfehler geboren werden, benötigen regelmäβige Operationen, bei denen sie künstliche Plastikklappen eingesetzt bekommen. Der Nachteil: die künstlichen Klappen und ständigen OPs können Infektionen und Vernarbung des Gewebes verursachen, und – besonders wichtig bei Kindern – sie wachsen nicht mit. Seit einigen Jahren gibt es aber die Möglichkeit, biologische Spenderklappen zu transplantieren, die mitwachsen9,10. Das Verfahren wurde während 20 Jahren entwickelt und an Schafen getestet und perfektioniert, bevor sie einem Menschen eingesetzt wurden. Viele Schafe mussten bei den Versuchen geopfert werden, doch die Patienten leben.
Andere Krankheiten wie Krebs oder Aids bleiben auch nach jahrelanger Forschung in vielen Fällen unheilbar. Und trotzdem: Statistiken aus Groβbritannien zeigen, dass dort heute doppelt so viele Krebspatienten mindestens 10 Jahre länger leben als noch vor 40 Jahren11. Und Aids hat sich zu einer Krankheit entwickelt, die mit Hoch-Aktiven-Anti-Retroviralen Therapien (die in Tierversuchen getestet wurden) in Schach gehalten werden kann.
Wollen wir diese komplexen Krankheiten besser behandeln, müssen wir ihre Mechanismen noch besser erforschen – auch in Tierversuchen. Auβerdem benötigen diese Krankheiten vielleicht eher eine personalisierte Medizin – also Behandlungen, die individuell auf den Patienten abgestimmt sind.
Tierversuche haben sicherlich zum medizinischen Fortschritt beigetragen. Wissenschaft und Medizin entwickeln sich ständig weiter, und so auch ihre Methoden. Mittlerweile wird verstärkt an Alternativen zu Tierversuchen geforscht – auch in Luxemburg (Mehr zu Alternativen in Teil 2 des science.lu Specials).
Nur weil etwas seit Jahrzehnten in Tierversuchen getestet wurde, soll nicht bedeuten, dass es in Zukunft nicht auch anders geht – mit ähnlichem Erfolg. Bis wir gute oder bessere und vor allem sichere alternative Methoden entwickelt haben, wird die Forschung wohl weiterhin auf Tierversuche zurückgreifen. Und auch diese werden verstärkt kontrolliert und verbessert. Mehr dazu auch im 2.Teil.
Tierversuche in Luxemburg
In den letzten 10 Jahren hat die luxemburgische Regierung biomedizinische Forschung verstärkt gefördert und einzelne Projekte an öffentlichen Forschungseinrichtungen beinhalten auch Tierversuche. Laut Statistiken der Administration des services vétérinaires des Ministeriums für Agrikultur wurden im Jahr 2015 in Luxemburg insgesamt 3524 Labortiere für wissenschaftliche Zwecke benutzt. Es handelt sich hierbei ausschliesslich um Mäuse (87%), Ratten (2%) und Zebrafische (11%)12. Die Tiere wurden fast nur für Grundlagenforschung benutzt (99%), also Forschung die in diesem Fall versucht biomedizinische Prinzipien oder Mechanismen zu verstehen. Oder den nächsten Schritt: translationelle Forschung (1%), die versucht die Resultate aus der Grundlagenforschung für die medizinische Praxis anzupassen. 2015 wurden die Labortiere für Forschung über Krebs, das Nervensystem, Immunsystem und das kardiovaskuläre System benutzt. Ein konkretes Beispiele ist in der Infobox genannt.
Weitere Fragen:
- Wie sind Tierversuche geregelt? (Teil 2)
- Was sind die Alternativen? (Teil 2)
- Was kann noch verbessert werden? (Teil 2)
- Wie sieht die Zukunft aus? (Teil 3)
- Kann die Frage Tierversuche - ja oder nein? überhaupt pauschal beantwortet werden? (Teil 3)
Autor: science.lu
Photo: Shutterstock
Quellen
1. http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:52010IP0130&from=EN
2. http://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX:32010L0063
3. http://ec.europa.eu/environment/chemicals/lab_animals/reports_en.htm
4. https://www.genome.gov/10001345/importance-of-mouse-genome/
5. http://ec.europa.eu/research/health/pdf/summary-report-25082010_en.pdf
7. http://www.understandinganimalresearch.org.uk/how/myths-and-facts/
8. http://eara.eu/de/kampagnen/40-grunde-warum-wir-tierversuche-in-der-forschung-brauchen/
9. http://www.medical-tribune.de/medizin/fokus-medizin/artikeldetail/wachsende-herzklappen-verschwindende-stents.html
10. http://www1.wdr.de/fernsehen/quarks/sendungen/tierversuche-von-schafen-und-kindern-100.html
11. http://www.cancerresearchuk.org/about-us/cancer-news/press-release/2014-04-29-half-of-all-cancer-patients-now-survive-at-least-10-years
12. http://www.ma.public.lu/ministere/rapport/index.html
Infobox
Das luxemburgische Règlement grand-ducal für den Schutz der Tiere, die für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden, gilt für „Tiere, die in Verfahren verwendet werden oder verwendet werden sollen oder die speziell gezüchtet werden, damit ihre Organe oder Gewebe zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet werden können.“
Als „Verfahren“ bezeichnet das Règlement grand-ducal (das auf einer EU-Direktive beruht) „jede invasive oder nicht invasive Verwendung eines Tieres zu Versuchszwecken oder anderen wissenschaftlichen Zwecken mit bekanntem oder unbekanntem Ausgang, oder zu Ausbildungszwecken die bei dem Tier Schmerzen, Leiden, Ängste oder dauerhafte Schäden in einem Ausmaß verursachen können, das dem eines Kanüleneinstichs gemäß guter tierärztlicher Praxis gleichkommt oder darüber hinausgeht.“
Eine Zusammenarbeit der NorLux Labore am Luxembourg Institute of Health und der Universität Bergen in Norwegen testet eine neue potentielle Behandlungsmethode für Hirntumore: Das Forscherteam hat winzige Kügelchen entwickelt, die man bei einem chirurgischen Eingriff lokal ins Gehirn von Labormäusen einpflanzen kann. Die Kügelchen sondern Moleküle ab, die verhindern, dass Krebszellen weiter wachsen und der Tumor größer wird. Link zum Artikel.