Der Preis für ein vielversprechendes Aids-Medikament könnte Wissenschaftlern zufolge von derzeit jährlich gut 40.000 Dollar pro Patient durch die Genehmigung von Generika-Versionen auf nur rund 40 Dollar fallen. Das Mittel Lenacapavir des US-Pharmaunternehmens Gilead könnte nach Einschätzung zahlreicher internationaler Fachleute im Kampf gegen die durch das HI-Virus ausgelöste Immunschwächekrankheit Aids die Wende bringen. Der Pharmakologe Andrew Hill von der Universität Liverpool und seine Kollegen haben daher die mögliche Kostensenkung durch eine Generika-Version errechnet.
Lenacapavir muss nur zwei Mal im Jahr gespritzt werden. Die Anwendung ist somit weniger aufwändig als die tägliche Einnahme von Tabletten. Außerdem wird das Mittel auch zur Vorbeugung einer HIV-Infektion getestet. Laut einer jüngst veröffentlichten, vorläufigen Studie liegt die Erfolgsrate dabei bei 100 Prozent. Lenacapavir könne also womöglich "wie eine Impfung" die Übertragung von HIV verhindern. Bei breitflächiger Anwendung könne "die HIV-Übertragung im Grunde eingestellt" werden, sagte Hill.
Menschen mit einem erhöhten Infektionsrisiko wie etwa Sexarbeiter könnten sich künftig mit dem Medikament schützen, legte Hill der Nachrichtenagentur AFP während der Welt-Aids-Konferenz in München dar. Mit einem Preis von jährlich mehr als 40.000 Dollar (36.700 Euro) können sich die meisten die Behandlung jedoch nicht leisten.
Hill und seine Kollegen errechneten daher auf Grundlage von Rohstoffpreisen und Gesprächen mit großen Generika-Herstellern in China und Indien, wie günstig ein Nachahmerprodukt verkauft werden könnte. Dabei gingen sie davon aus, dass das Mittel für zehn Millionen Patienten bestellt wird. Ihre Berechnungen sind eine sogenannte Preprint-Studie, sie wurden also noch nicht im sogenannten Peer-Review-Verfahren durch mehrere Fachexperten unabhängig voneinander überprüft.
Vor etwa zehn Jahren hatten Hill und seine Kollegen prognostiziert, dass ein Gilead-Medikament gegen Hepatitis C, das damals mit 84.000 Dollar pro Patient berechnet wurde, als Generika-Variante schon für 100 Dollar zu haben sein könnte. "Mittlerweile kostet es weniger als 40 Dollar, Hepatitis C zu behandeln", hob Hill nun hervor.
Gilead sieht sich mit großem Druck von Nichtregierungsorganisationen und einflussreichen Persönlichkeiten konfrontiert, Generika-Versionen seines Aids-Medikaments Lenacapavir zu erlauben. In einem am Montag veröffentlichten AFP-Interview forderte auch die Direktorin des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV und Aids (UNAIDS), Winnie Byanyima, das Unternehmen auf, mit einer solchen Entscheidung "Geschichte zu schreiben". "Gilead hat eine Gelegenheit, die Welt zu retten", fügte sie hinzu.
Das US-Unternehmen versichert, dass es in den vergangenen Monaten "regelmäßig" mit Regierungen, NGOs und anderen Akteuren im Kampf gegen Aids darüber gesprochen habe, wie "die größtmögliche Zahl" an Menschen Zugang zu der Behandlung mit Lenacapavir bekommen könne.
Aus der Pressestelle des Unternehmens hieß es, dass Gilead bei der Verwendung von Lenacapavir zur Vorbeugung einer HIV-Infektion noch auf die Ergebnisse der klinischen Studie der Phase III warte. Für Aussagen über einen diesbezüglichen großangelegten Einsatz des Mittels sei es daher noch "zu früh".
Weltweit erhalten derzeit etwa 30 Millionen HIV-Infizierte eine antiretrovirale Therapie. Etwa zehn Millionen Betroffene haben hingegen keinen Zugang zu einer wirksamen Behandlung.