Im Kampf gegen Antisemitismus sieht die jüdische Bildungsexpertin Anastassia Pletoukhina die verschiedenen Religionsgemeinschaften in Deutschland in der Pflicht. Viele Muslime trauten sich seit dem Hamas-Angriff auf Israel vor zwei Jahren "wegen der Bedrohung aus den eigenen Reihen nicht, ihre Solidarität mit Juden offen zu zeigen", sagt die Sozialwissenschaftlerin von der Jewish Agency Berlin im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP. Auch von der "christlichen Mehrheitsgesellschaft" wünsche sie sich "ein klares Signal der Unterstützung gegen jeglichen Judenhass".
Aus ihrer Arbeit im interreligiösen Dialog kenne sie "viele Menschen in der muslimischen Community, die nach dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 solidarisch mit Juden sind". Doch bestehende Allianzen und Begegnungsprojekte seien nach dem Überfall und dem daraus folgenden Gaza-Krieg "einfach weggebrochen", berichtet die Sozialpädagogin. Diejenigen, die sich dagegen weiter offen für einen Austausch mit Juden einsetzten, seien "wirklich bedroht". Dass Menschen "teilweise Angst haben, ihre Solidarität mit Juden zu bekunden", sei für sie "nicht hinnehmbar".
Von der christlichen Mehrheitsgesellschaft wünsche sie sich, "dass jeder versuchte Angriff gegen Juden auch als ein Angriff auf alle gesehen" werde, sagt Pletoukhina. "Aber das ist nicht der Fall. Wir sind immer die 'Anderen'."
Bei der Bedrohung von Weihnachtsmärkten sei die Betroffenheit "ganz anders". Wenn jedoch Juden attackiert würden - ob in Synagogen, Cafés oder auf der Straße - bleibe der "gesellschaftliche Aufschrei" aus, sagt Pletoukhina, die 2019 den Angriff eines rechtsextremen Täters auf die Synagoge in Halle überlebte.
Bei den weltweiten Angriffen auf Juden sieht Pletoukhina eine "traurige Kontinuität". Anschläge wie die in Sydney, Manchester und Israel lösten auch bei Juden in Deutschland "Trauer, Flashbacks und eine ständige Retraumatisierung" aus. "Auf der anderen Seite ist da wirkliche lebensbedrohliche Angst."
Dass in Deutschland etwa muslimische Vertreter im Andenken an die jüdischen Opfer eines Anschlags beten - so wie kürzlich in Australien nach dem Anschlag auf das jüdische Lichterfest Chanukka - hält Pletoukhina für "undenkbar".
Aber es gebe hierzulande auch "Lichtblicke". Als Beispiel nennt die Bildungsexpertin das Münchner Dialogprojekt Youth Bridge der Europäischen Janusz Korcak Akademie, das die Jewish Agency bei der Aktion "Fake or Fact" unterstützte. Ziel sei es, "Brücken zwischen Menschen verschiedener Kulturen, Religionen und Nationen zu bauen" und "gegen Ausgrenzung und Radikalisierung" vorzugehen.
Dabei stünden vor allem "die persönlichen Begegnungen und das Verständnis für die täglichen Lebensrealitäten" im Zentrum. Einen Monat vor Weihnachten seien Youth Bridge-Vertreter sogar von Papst Leo XIV. in Rom bei seiner Generalaudienz empfangen und in ihrer Arbeit "bestärkt" worden, berichtet Pletoukhina.
Als weiteres Beispiel nennt sie die christliche Organisation Ebenezer. Diese wirke "in die eigenen christlichen Kreise hinein" und leiste "sehr viel Aufklärungsarbeit und schafft Sensibilität für die aktuelle Situation". In vielen christlichen Gemeinden werde die Unsicherheit von Juden "sehr ernst" genommen. Die Fortsetzung des Dialogs bleibe aber insgesamt eine "Mammutaufgabe".