Frankfurt University of Applied Sciences
Wer sich über das Für und Wider von LGBTIQ+ Themen an Schulen eine fundierte Meinung bilden will, dem kann ein Blick in die Entwicklungspsychologie nicht schaden. Ab welchem Alter beginnen wir zu lernen, dass es verschiedene biologische Geschlechter gibt? Wann wissen wir, welchem davon wir uns zugehörig fühlen? Wann entdecken wir unsere Sexualität? Wann ist uns klar, von wem wir uns angezogen fühlen? Mit diesen und noch vielen anderen Fragen haben wir uns an Stefan Timmermanns gewandt. Er ist Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und 1. Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualpädagogik e.V. in Deutschland.
Im Interview erklärt Stefan Timmermanns die Entwicklung der Geschlechtsidentität und Sexualität von Kindern, und geht auf die Rolle von Genetik und Umwelt sowie die Auswirkungen gesellschaftlicher Offenheit auf queere Identitäten ein.
Zur Erinnerung: Die moderne Forschung spricht von verschiedenen Dimensionen des Geschlechts, die im Alltag oft miteinander verwechselt werden. Das sind im Einzelnen u.a.:
- das biologische Geschlecht (Biological Sex), körperliche Merkmale mit denen man das Licht der Welt erblickt,
- die Geschlechtsidentität (Gender Identity), wie wir tief in unserem Inneren fühlen,
- und die sexuelle Orientierung (Sexual Orientation), die uns zu bestimmten anderen Menschen sexuell hinzieht.
Definitionen und Hintergrundinformationen zu LGBTQI+ gibt es in einem separaten Artikel.
Zusammenfassung
Hier die wichtigsten Punkte des Interviews zusammengefasst:
- Entwicklung der Geschlechtsidentität: Kinder beginnen typischerweise im Alter von etwa drei Jahren, ihre Geschlechtsidentität zu verstehen, wobei dies individuell variieren kann. Bis zum Alter von sechs oder sieben Jahren erkennen sie in der Regel ihr Geschlecht als stabil.
- Frühe Sexualität: Kinder beginnen von Geburt an, Aspekte der Sexualität wie Zärtlichkeit, Kuscheln, Schwärmereien sowie ihren Körper zu erkunden. Die Entdeckung einer erwachsenen Sexualität beginnt jedoch normalerweise während der Pubertät.
- Sexuelle Orientierung: Junge Kinder können sich zu beiden Geschlechtern hingezogen fühlen, aber es ist zu früh, um Aussagen über ihre zukünftige sexuelle Orientierung zu machen.
- Fortlaufende Identitätsentwicklung: Die Entwicklung der Geschlechtsidentität ist ein lebenslanger Prozess, bei dem das Verständnis des eigenen Geschlechts durch verschiedene Lebensphasen hindurch evolviert.
- Einfluss von Genetik und Umwelt: Die Entwicklung der Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung wird durch eine Kombination aus Genetik, individueller Psychologie und gesellschaftlichen Reaktionen beeinflusst.
- Auswirkungen gesellschaftlicher Offenheit: Gesellschaftliche Offenheit spielt eine entscheidende Rolle bei der Leichtigkeit des Coming-outs und der Anerkennung vielfältiger Geschlechtsidentitäten, wobei sich in offenen Gesellschaften mehr Menschen trauen, sich als queer zu identifizieren.
- Herausforderungen in der Forschung: Die Forschung zu Sexualität und Geschlechtsidentität von Kindern ist begrenzt – u. a., weil es schwer ist, die elterliche Zustimmung für Studien einzuholen und weil es ein sensibles Thema ist.
- Bildungsansätze: Bildungsprogramme, die LGBTIQ+-Themen behandeln, können Diskriminierung reduzieren und die Toleranz erhöhen, sollten jedoch regelmäßig aufgefrischt werden, um effektiv zu sein.
Im Interview bzw. diesem Artikel ist hauptsächlich von zwei biologischen Geschlechtern bzw. zwei Geschlechtsidentitäten die Rede, da es hierzu mehr Forschung gibt als zu Intersex-Personen und nicht-binären Personen. Auf das Thema Intersex und unterschiedliche Geschlechtsidentitäten gehen wir näher in einem anderen Artikel ein: LGBTIQ+: Alles, was du wissen musst.
Komplettes Interview und zusätzliche Hintergrundinformationen
Herr Professor Timmermanns, ab welchem Alter entdecken Kinder ihr biologisches Geschlecht beziehungsweise ihre Geschlechtsidentität?
Stefan Timmermanns: In der Fachliteratur finden Sie häufig die Angabe, dass der Prozess um das dritte Lebensjahr beginnt. Das ist aber individuell sehr unterschiedlich. Es gibt Kinder, bei denen dieser Entwicklungsschritt schon früher einsetzt – unter Umständen schon mit anderthalb Jahren. In diesem Alter unterscheiden sie nicht zwischen den Kategorien biologisches Geschlecht und Geschlechtsidentität. Woran sie den Unterschied zwischen den Geschlechtern erkennen, ist individuell. Die meisten gehen zunächst von äußeren sichtbaren Merkmalen aus wie langen Haaren, einem Bart oder dem Tragen von Röcken. Während der Entwicklung haben Kinder dann auch schon mal die Vorstellung, dass sich das Geschlecht im Laufe des Lebens verändern könnte.
Bis zum siebten Lebensjahr lernen sie, auch eine Unterscheidung nach den äußeren Geschlechtsorganen vorzunehmen. Die meisten, aber nicht alle, ordnen sich dann auf der Grundlage der äußeren Geschlechtsmerkmale einem Geschlecht zu und wissen in der Regel, dass sich dieses Geschlecht nicht mehr verändert. In seltenen Fällen ist dies Kindern nicht möglich. Dann könnte man eventuell auch eine Geschlechtsinkongruenz vermuten (Anm. der Redaktion: wenn das empfundene oder gelebte Geschlecht einer Person nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen biologischen Geschlecht übereinstimmt).
Und wie sieht es mit der Sexualität aus? Ab welchem Alter beginnen Kinder, diese zu entdecken?
Stefan Timmermanns: Das hängt davon ab, welche Definition von Sexualität Sie anwenden. Wählen Sie einen engen Begriff, der sich eher an einer erwachsenen Sexualität orientiert, dann beginnen Kinder in der Regel ab der Pubertät damit, diese für sich zu entdecken. Wenn ich von Sexualität im engen Sinne spreche, dann meine ich den Geschlechtsakt – also irgendeine sexuelle Praktik, die meistens auch mit Penetration verbunden ist.
Sie können aber auch einen weiten Begriff von Sexualität wählen, wie er etwa in der Sexualwissenschaft und Sexualpädagogik verwendet wird. Der schließt dann auch Dinge wie Zärtlichkeit oder Schmusen, Fantasien oder Träume mit ein. Das zu entdecken, beginnt bei Kindern deutlich früher. Man kann sagen, dass Menschen von Geburt an sexuelle Wesen sind. Denn Kinder und vor allen Dingen Säuglinge sind auf Körperkontakt, Nähe, Zuwendung und Wärme angewiesen. Wenden Sie also den weiten Begriff von Sexualität an, dann beginnt deren Entdeckung schon mit der Geburt.
Umfasst der enge Begriff der Sexualität auch die Frage, also ob man sich zum anderen oder zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt?
Stefan Timmermanns: Ja, aber die Frage nach Sympathie oder für wen man schwärmt, gehört auch unter die weite Definition von Sexualität. Und diese Fragen stellen sich auch schon Kinder. Denken Sie an die berühmte Sandkastenliebe, die ja schon im Kindergartenalter stattfinden kann. Das sind erste Erfahrungen mit erotischen Gefühlen im weitesten Sinne, die auch Kinder schon machen können.
Ist man in diesem doch sehr jungen Kindesalter bei der sexuellen Orientierung noch variabel oder legt man sich da schon fest?
Stefan Timmermanns: Da von Festlegungen zu sprechen, wäre sicherlich verfrüht. Da ist noch eine gewisse Variabilität vorhanden. Ich kenne da zwar keine wissenschaftliche Untersuchung, aber ich denke man kann sagen, dass das oft gegengeschlechtlich ist. Aber eben nicht immer. Also da können Jungen dann auch für einen Erzieher schwärmen oder Mädchen für die Grundschullehrerin. Dies gilt ebenso für Verliebtheitsgefühle zu gleichaltrigen Kindern, den sogenannten Sandkastenlieben. Das heißt aber auch, dass man in dem Alter noch keine Aussage darüber treffen kann, ob sich die Kinder später mal homosexuell oder heterosexuell entwickeln werden. Das wäre zu früh.
Und wann ist die Entwicklung der Geschlechtsidentität abgeschlossen? Wann wissen wir also, welchem Geschlecht wir uns im Inneren zugehörig fühlen?
Stefan Timmermanns: Die Entwicklung der Geschlechtsidentität ist in der Regel mit dem sechsten oder siebten Lebensjahr vorerst abgeschlossen. Das heißt aber nicht, dass danach nichts mehr passiert. Bereits in der Pubertät kommen neue Aspekte der Geschlechtsidentität hinzu – zum Beispiel durch das Erleben von Sexualität, Menstruation oder Elternschaft. Wir gehen heute in der Forschung davon aus, dass Identitätsentwicklung ein lebenslanger Prozess ist. Das heißt mit jedem Eintritt in ein neues Stadium wird diese Identität weiterentwickelt. Egal, ob das jetzt eine männliche oder weibliche ist. Die Identität eines 6-jährigen Mädchens ist eine andere als die eines 13-jährigen Mädchens oder einer 20-jährigen Frau.
Das heißt, ob ich mich jetzt als Mann fühle, als Frau oder als etwas anderes, kann durchaus in den verschiedenen Stadien meines Lebens variieren?
Stefan Timmermanns: Das kann variieren, muss aber nicht. Was ich damit sagen wollte: Ein 6-jähriges Mädchen hat eine andere Vorstellung von einer weiblichen Identität als ein 13-jähriges Mädchen, das zum Beispiel seine Periode als Teil einer weiblichen Identität betrachtet. Eine junge Mutter, die tagtäglich ihr Kind versorgt hat wiederum eine andere Vorstellung vom Frausein als eine 60-jährige Großmutter, deren Kinder schon erwachsen und nicht mehr abhängig von ihr sind. Die weibliche Identität bleibt zwar konstant, aber was man da genau drunter versteht, das verändert sich und entwickelt sich weiter. Unabhängig davon kann es natürlich auch sein, dass eine Person, die sich ursprünglich mit sechs Jahren weiblich identifizierte mit 13 dann feststellt: Das passt nicht zu mir. Ich fühle mich als Junge oder Mann. Solche Veränderungen gibt es natürlich auch. Die sind aber relativ selten. Die meisten Menschen bleiben in ihrer Geschlechtsidentität konstant.
Welche Rolle spielen nach aktuellem Stand der Forschung die Gene auf der einen Seite und die Umwelt auf der anderen Seite bei der Entwicklung von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung?
Stefan Timmermanns: Das ist eine Mischung. Das kann man ganz klar sagen. Die Gesellschaft reagiert in einer bestimmten Art und Weise auf das biologische Geschlecht, das ein Kind hat. Das heißt, diese Reaktionen beeinflussen das Kind. Es beeinflusst, wie es seine Geschlechtsidentität empfindet und wie es sich in seinem Körper fühlt. Diese Reaktion ist individuell unterschiedlich. Die Psyche des Menschen spielt also auch noch eine Rolle dabei, wie mit den gesellschaftlichen Reaktionen auf die Biologie umgegangen wird. Es ist ein Zusammenspiel zwischen diesen drei Faktoren. Man kann nicht sagen, dass einer davon allein ausschlaggebend für die Entwicklung der Identität wäre.
Homosexualität: angeboren oder erworben?
Kann man sagen, ob Kinder durch zu viel Offenheit in der Phase ihrer Identitätsentwicklung verwirrt werden? Oder tut ihnen das eher gut?
Stefan Timmermanns: Dazu kenne ich keine Studien. Aber die Erfahrung zeigt, dass es für Kinder gar kein Problem darstellt, mit unterschiedlichen Lebensformen oder Identitäten klarzukommen. Es sind die Erwachsenen, die Probleme damit haben. Ich denke, da wird die eigene Verwirrung auf die Kinder projiziert. Kinder sind sehr flexibel, was Normen angeht. Sie können zum Beispiel auch verschiedene Regeln, die in unterschiedlichen Räumen gelten, voneinander trennen. Sie können also akzeptieren, dass sie bei Oma und Opa abends Süßes essen dürfen, zu Hause bei den Eltern aber nicht.
Das heißt, selbst in zwei völlig konträren Umgebungen wie einem sehr konservativen Elternhaus und einer sehr offenen Schule können Kinder unterscheiden und sich entsprechend verhalten?
Stefan Timmermanns: Kinder können das unterscheiden. Die Frage ist natürlich, wie sieht diese unterschiedliche Umgangsweise mit dem Thema aus. Und wird auf die Kinder dann Druck ausgeübt, dass sie sich für eine bestimmte Partei entscheiden müssen? So etwas bringt Kinder dann in Loyalitätskonflikte. Sagt man ihnen aber, es gibt auch anderen Menschen, die anders leben als wir, dann ist es für Kinder kein Problem, das unter einen Hut zu bringen.
Gibt es Studien darüber, ob Kinder gleichgeschlechtlicher Paare in Bezug auf Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung anders ticken als Kinder von Heteropaaren?
Stefan Timmermanns: Da gibt es einige Untersuchungen – zum Beispiel von Marina Rupp oder Stephanie Gerlach. Und nein, es gibt keine Unterschiede bei den Kindern. Allerdings machen Kinder aus Regenbogenfamilien oftmals eine Erfahrung, die andere Kinder nicht unbedingt machen: die Diskriminierungserfahrung in Kita oder Schule, weil sie eben zwei Mütter oder zwei Väter als Eltern haben.
Das heißt die Kinder werden direkt diskriminiert?
Stefan Timmermanns: Ja. Sie werden zum Beispiel von anderen Kindern gehänselt. Da hören sie zum Beispiel Sätze wie: „Du kannst nicht 2 Mütter haben. Alle Menschen haben einen Vater und eine Mutter.“ Wenn jemand nicht ernst genommen wird, so ist das schon eine Form von Normierungsdruck, der ausgeübt wird. Das sind dann bei jüngeren Kindern Vorformen von Diskriminierung. Und wenn andere Kinder nicht mit einem Kind aus einer Regenbogenfamilie spielen wollen, kann schon von Ausgrenzung oder Diskriminierung gesprochen werden.
Wie wird mit dem Themenkomplex LGBTIQ+ nun an Schulen umgegangen?
Stefan Timmermanns: Ich kann hier nur von Deutschland sprechen und da ist es aufgrund der föderalen Struktur sehr unterschiedlich. Denn jedes Bundesland hat eigene Richtlinien zu diesem Thema. Aber in den meisten Bundesländern ist es im Lehrplan enthalten und soll auch thematisiert werden. Wie das die einzelnen Lehrer umsetzen, ist natürlich sehr unterschiedlich. Und auch wenn es einen Lehrplan Sexualerziehung gibt, heißt das aber im Umkehrschluss nicht, dass alle Kinder oder alle Jugendlichen in der Schule mit dem Thema in Kontakt kommen. Der Lehrplan schafft also die Möglichkeit, über LGBTIQ+ Themen zu sprechen und in vielen Schulen wird es auch gemacht – aber eben nicht in allen. In einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2020) geben 47 Prozent der Jugendlichen in Deutschland an, im Rahmen der schulischen Sexualerziehung auch über Homosexualität gesprochen zu haben. 1996 berichteten dies nur 27 Prozent. Diese Zahlen sagen jedoch nichts darüber aus, in welcher Art und Weise die Lehrkraft das Thema behandelt hat.
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In Luxemburg stehen Themen wie Geschlechtsidentität und -ausdruck sowie sexuelle Orientierung zur Zeit nicht explizit in den Lehrplänen, aber diese Themen können sowohl in der Grundschule als auch in der Sekundarschule behandelt werden. Das bestätigte auch Luc Weis, Direktor des SCRIPT (Service de Coordination de la Recherche et de l’Innovation pédagogiques et technologiques) in einem Interview gegenüber RTL. Er betont auch, dass solche Themen altersgerecht behandelt werden müssen. Je nach Thema passiert das in der Regel im Fach „Vie et société“ oder im Biologieunterricht. Ob und wie, ist aber der Schule bzw. der Lehrperson überlassen. Laut dem LGBTQI Inclusive Education Report von IGLYO (2018) seien „alle Vorsitzenden der nationalen Komitees für Programme der klassischen Sekundarbildung und der und der allgemeinen Sekundarbildung aufgefordert, diese Themen (Anm. der Redaktion: Geschlechtsidentität und -ausdruck, sowie sexuelle Orientierung) als Teil der Lehrpläne zu betrachten zu berücksichtigen und sie in die Schulprogramme aufzunehmen.“ Verschiedene Organisation sowie das Institut de Formation de l'Education Nationale (IFEN) bieten verschiedene optionale Schulungen für Lehrer und sozialpädagogisches Personal zu diesem Thema an.
Der LGBTQI European Education Index der IGLYO zeigt, dass die Situation in punkto Lehrpläne und Weiterbildung in vielen europäischen Ländern ähnlich ist.
In welchem Alter Kinder und Jugendliche bestimmte Informationen erhalten sollten empfehlen Standards der WHO zur sexuellen Bildung in Europa. Diese Standards dienen auch zur Orientierung im Ratgeber „Let’s talk about sex“ für Fachkräfte in Luxemburg, der 2020 erschien.
Ab welchem Alter beziehungsweise welcher Klassenstufe ist das Thema in Deutschland vorgesehen?
Stefan Timmermanns: In den weiterführenden Schulen ist es in fast allen Bundesländern im Lehrplan ab der sechsten Jahrgangsstufe drin. Da sind die Kinder dann 12 Jahre alt.
Sind die Themen Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung in dieser Altersgruppe gut platziert oder sollten sie eher früher oder eher später behandelt werden?
Stefan Timmermanns: Ich denke, man sollte sich zunächst daran orientieren, was die Kinder in einem speziellen Alter überhaupt für Fragen haben. Welche Themen interessieren sie in ihrer aktuellen Entwicklungsphase. Im Grundschulalter haben sie zum Beispiel noch eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne. Da können Sie gerade mal einen Satz als Antwort sagen, dann wird schon die nächste Frage gestellt und Sie sind bereits bei einem anderen Thema. In dem Alter geht es den Kindern noch nicht um Fragen zu Sexualpraktiken. Aber Sie können durchaus Aufklärung über LGBTIQ+ betreiben, indem Sie ihnen erklären, dass sich auch zwei Männer oder zwei Frauen ineinander verlieben, zusammenleben und heiraten können. Das ist für einen Siebenjährigen oder Neunjährigen nicht zu früh.
Das klingt dann aber eher nach dem Fach Ethik als nach Sexualerziehung?
Stefan Timmermanns: Das hängt davon ab, was Sie unter Sexualerziehung verstehen. Wenn Sie einen engen Begriff von Sexualität im Kopf haben, dann würde ich Ihnen auch Recht geben. Das wäre dann ein Teil des Biologieunterrichts. Doch bei den angesprochenen Fragen geht es erst einmal nicht um Sex, sondern um Lebensformen. Es geht um Partnerschaft, Familien, Formen des Zusammenlebens, Verliebtsein, Freundschaften. Das sind vor allem die sozialen Aspekte von Sexualität, denen die Kinder auch schon im Grundschulalter begegnen und mit denen sie auch teilweise eigene Erfahrungen gemacht haben. Zu meinem ganzheitlichen Verständnis von Sexualerziehung gehört das alles mit dazu. Denn ich nutze den breiten Begriff von Sexualität. Da geht es nicht nur oder nicht in erster Linie um Geschlechtsverkehr, Verhütung, Zeugung, Geburt und so weiter. Deshalb soll die Sexualerziehung in Deutschland auch nach dem fächerübergreifenden Prinzip gelehrt werden. Das heißt überall dort, wo das Thema aufkommt, soll es auch pädagogisch begleitet werden. Wird zum Beispiel im Matheunterricht eine Mitschülerin sexistisch beleidigt, dann muss auch der Mathelehrer damit umgehen können. Er muss dann Sexualerziehung in dem Sinne leisten, dass er darauf reagiert und die Sache zurechtrückt. Aber natürlich müssen Mathelehrer nicht so ausgebildet sein, dass sie eine komplette Stunde zur sexuellen Aufklärung halten können.
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Was fächerübergreifende Sexualerziehung konkret bedeutet, zeigen auch Beispiele aus Kalifornien.
- „Zum Beispiel lernen Grundschüler, dass Familien nicht nur aus Mutter, Vater und leiblichen Kindern bestehen, sondern auch durch Adoption, als Ein-Eltern-Haushalte, als von Großeltern geführte Haushalte und als Familien mit zwei Müttern oder zwei Vätern gebildet werden.“
- „Kalifornische Schüler lernen nicht nur, dass Sally Ride die erste US-Amerikanerin im Weltraum war, sondern auch die erste Lesbe im Weltraum."
(Quelle: OECD, 2022)
Sind Ihnen Studien zur Wirkung der Aufklärung in Schulen zu LGBTIQ+ Themen bekannt?
Stefan Timmermanns: Ich selbst habe meine Doktorarbeit in dem Themenfeld geschrieben und dabei den Effekt von Aufklärungsveranstaltungen auf die Einstellung von Jugendlichen zu Homosexualität erforscht. Die Untersuchungen, die ich damals an Schulen gemacht habe, waren nicht repräsentativ. Aber das Ergebnis hat gezeigt, dass solche Aufklärungsarbeit tatsächlich in einem bestimmten Rahmen dazu beitragen kann, Vorurteile und Diskriminierung abzubauen.
Aber es ist auch ein Effekt, der mit der Zeit verpufft. Man darf nicht glauben, bloß weil das Thema einmal für 90 Minuten in einer Schulklasse behandelt wurde, ist es dann verinnerlicht. Also um wirklich effektiv zu sein, müsste man das wie in einem Spiralcurriculum nach ein, zwei Jahren, noch einmal aufgreifen, um weitere Aspekte altersangemessen zu behandeln. Und es ist wichtig, dass eben nicht nur einmalig ein solches Aufklärungsprojekt durchgeführt, sondern dass die gesamte Haltung in der Schule auch von allen Lehrern unterstützt und vertreten wird. Dann kann so etwas einen nachhaltigen Effekt zeigen.
Leider gibt es nicht viele Studien über die Effektivität von Programmen, die Vorurteile abbauen, Diskriminierung verringern und für Toleranz werben sollen. Da haben wir wirklich eine Lücke in der Forschung.
Ergebnisse aus einzelnen Studien zur Auswirkungen von Aufklärung in Schulen
Es gibt bisher nur wenige Studien über die Effekte von Aufklärung über LGBTIQ+ Themen in Schulen und die meisten stammen aus den USA. Ein Arbeitsdokument der OECD aus dem Jahr 2022 fasst Ergebnisse aus einzelnen Studien zusammen und schlussfolgert: „Die in diesem Artikel diskutierten Forschungsergebnisse zeigen, dass einige Praktiken Chancen und schulische Umgebungen bieten, in denen sich LGBTQI+-Studenten entfalten können.“
Hier einige Beispiele dieser Forschungsergebnisse. Dabei handelt es sich allerdings immer um Korrelationen, also Zusammenhänge. Daraus kann man nicht schlussfolgern, dass die verschiedenen Maßnahmen die (einzige) Ursache der beobachteten Effekte sind. Ausserdem gehen wir hier nicht auf das "wie" und das "wann" ein, also wie solche Themen in Schulen addressiert werden (können) und ab welchem Alter.
Auswirkungen auf Betroffene:
LGBTIQ+-Personen leiden häufiger unter Mobbing, psychologischen Problemen und ihre schulischen Leistungen riskieren schlechter zu sein als die ihrer nicht-Queeren Mitschüler. Laut einer Studie von Mai 2024 bei LGBTQI Personen über 15 gaben in Luxemburg "68% aller Befragten an, dass sie in der Schule Mobbing, Spott, Hänseleien, Beleidigungen oder Bedrohungen erlitten haben, weil sie LGBTIQ+ sind. Für die EU-27 sind es 67%, ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu 2019 (43%)." (Quelle: Studie der European Agency for Fundamental Rights: LGBTIQ at a crossroads: progress and challenges)
- In US-amerikanischen Schulen, die ein LGBT-inklusives Schulklima praktizieren, gab es signifikant weniger Berichte von Mobbing und Belästigung gegen LGBTIQ+ (Gower et al., 2018.
- In niederländischen Schulen, in denen LGBTQI+-Themen behandelt wurden, nahmen Betroffene das Schulklima langfristig als sicherer und weniger feindselig wahr (Baams et al., 2017).
- Einige Studien kommen zur Schlussfolgerung dass ein LGBTQI+-inklusives Schulklima positive Effekte auf das Wohlbefinden und Zugehörigkeitsgefühl(Toomey, McGuire and Russel, 2012; Stonewall, 2017; Kosciw and Zongrone, 2019), sowie auf die schulische Leistung haben kann (Toomey, McGuire and Russel, 2012).
- Eine Übersichtsstudie aus dem Jahr 2021 fand einen Zusammenhang zwischen einem LGBT-inklusiven Schulklima und einem niedrigeren Risiko für Suizid und weniger depressiven Symptomen bei LGBT-Schülern (Ancheta et al., 2021).
Auswirkungen auf andere:
Die Thematisierung von LGBTQI+ Themen in Schulen kann zu einem besseren Schulklima (Baams et al., 2017; Snapp et al., 2015) sowie geschlechtergerechten Einstellungen, Selbstvertrauen und Selbstidentität führen (UNESCO, 2018; Alldred and Fox, 2020).
Auswirkungen auf sexuelle Orientierung:
Ein häufiges Argument von Gegnern der Aufklärung über LGBTQI+ Themen in Schulen ist, dass dies Kinder und Jugendliche ermutigen könnte, ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu ändern (Gegenfurtner and Gebhardt, 2017).
Für diese Hypothese gibt es laut Experten allerdings kaum Hinweise aus der Wissenschaft (OECD, 2022; Gegenfurtner and Gebhardt, 2017, Bailey et al., 2016).
Für zusätzliche Infos, siehe Infobox „Homosexualität: angeboren oder erworben?“ weiter oben.
Aber nicht nur in diesem Bereich scheint die Studienlage eher dünn zu sein.
Stefan Timmermanns: Das stimmt. Ähnlich sieht es im Themenbereich Sexualität bei Kindern aus. Wie entwickelt sie sich genau? Sind da in den letzten Jahrzehnten Unterschiede festzustellen? In Deutschland gibt es da eigentlich nur die Jugendsexualität Studien der BZgA. Aber die fangen auch erst beim Alter von 14 an. Jüngere Kinder sind kaum Gegenstand der Forschung.
In Vorbereitung auf das Interview habe ich mehrere Ihrer Kolleginnen und Kollegen angesprochen. Dabei musste ich feststellen, dass es äußerst schwierig war, jemanden zu finden, der tatsächlich auch für ein Interview bereit ist. War das einfach nur Pech oder könnte das auch am Thema liegen?
Stefan Timmermanns: Ich weiß natürlich nicht, wen Sie angesprochen haben. Aber ein Stück weit könnte es tatsächlich daran liegen, dass es sich um ein heikles Thema handelt. Deshalb haben wir auch zu wenig Forschung in dem Bereich. Denn erstens ist es schwierig gerade zur Sexualität von Kindern zu forschen. Sie müssen ja Eltern finden, die zustimmen, dass ihre Kinder an so einer Studie teilnehmen. Und zweitens ist das Sexualitätsthema insgesamt keines, mit dem Sie in der Hochschullandschaft große Lorbeeren ernten können. Denn Sie müssen damit rechnen, gerade wegen des sehr speziellen Themas immer auch ein Stück weit kritisch beäugt zu werden. Es kann sein, dass Sie sich für die Wahl des Themas rechtfertigen müssen. Eventuell wird Ihnen unterstellt, ein persönliches Interesse zu verfolgen. Da kann einem schnell mal die Wissenschaftlichkeit abgesprochen werden. Das ist also nicht immer förderlich für eine wissenschaftliche Karriere.
Das heißt, je besser man die Gesellschaft für die Themen Geschlechtsidentität und Sexualität sensibilisiert und für Toleranz wirbt, umso besser kann der Bereich auch erforscht werden?
Stefan Timmermanns: Ja, das wäre wirklich die Hoffnung. Aber das passiert alles noch auf einem sehr niedrigen Level. Ich glaube, es sind zurzeit zu wenige, um die kritische Masse zu erreichen, ab der es dann für die gesamte Gesellschaft wirklich effektiv wird. Denn Sie müssen erst einmal eine bestimmte Anzahl von Leuten im Wissenschaftsbetrieb erreichen, die sich mit dem Thema beschäftigen und auseinandersetzen. Und das ist meiner Meinung nach in Deutschland und Europa noch nicht gegeben.
Es heißt, dass sich heute mehr Menschen als früher einem der Buchstaben von LGBTIQ+ zuordnen. Liegt das vielleicht daran, dass in einer offener werdenden Gesellschaft ein Coming-out leichter fällt?
Stefan Timmermanns: Der offene Umgang in der Gesellschaft ist natürlich eine Grundvoraussetzung dafür, ob sich eine Person offen zu erkennen gibt oder nicht. In Diktaturen werden sich natürlich weniger Leute offen zu ihrem Queersein bekennen, da das dort zum Teil starke negative Konsequenzen für ihr Leben haben kann. Daher denke ich, dass der Grad der Offenheit einer Gesellschaft sich in der Anzahl der Leute widerspiegelt, die sich nach außen zu erkennen geben. Ich glaube, es gibt aber noch einen anderen Effekt, der das erklären könnte. Wurde vor 20 oder 30 Jahren eigentlich nur von hetero- oder homosexuell gesprochen, sind in den letzten Jahren verschiedene Identitäten neu dazugekommen, wie zum Beispiel asexuelle Menschen. Oder denken Sie an die vielen anderen Selbstbezeichnungen, bei denen nicht immer klar ist, ob sie zum queeren Spektrum gezählt werden sollen. Zum Beispiel bezeichnet der Begriff demisexuell eine Person, für die Sex nur innerhalb einer vertrauensvollen Beziehung vorstellbar ist. Durch die Erweiterung der verschiedenen Identitäten ist meiner Meinung nach auch die Anzahl der Personen gestiegen, die sich als queer bezeichnen.
Bei den verschiedenen Identitäten sind in letzter Zeit immer wieder neue Buchstaben hinzugekommen. Aber wie sieht es auf Seiten derer aus, die queere Lebensweisen ablehnen? Werden da auch solche Unterschiede gemacht?
Stefan Timmermanns: Wohl eher nicht. Das hat mit dem Phänomen der In- und Outgroup zu tun. Das ist eine gängige Theorie in der Sozialforschung und bildet den Hintergrund zum Verständnis von Diskriminierung, Ausgrenzung und Rassismen. Die Gruppe, zu der man selber gehört, ist die In-Group. Sie wird von ihren Mitgliedern differenziert betrachtet. Die Gruppe der anderen, zu der man nicht gehört und auch nicht gehören will, ist die Out-Group. Deren Mitglieder werden alle mit den gleichen Eigenschaften wahrgenommen. Da wird keine Bandbreite in der Individualität festgestellt.
Zusätzliche Fragen an Prof. Timmermanns
Autor: Kai Dürfeld (für scienceRELATIONS - Wissenschaftskommunikation)
Redaktion: Michèle Weber (FNR)
Lektorat: Jean-Paul Bertemes, Linda Wampach, Didier Goossens (FNR)