Joël Mossong (links) ist Epidemiologe bei der Direction de la Santé. Dirk Brenner (rechts) ist Immunologe am LIH und LCSB der Universität Luxemburg.

Gerade schwappte die Sommerwelle über Europa hinweg; dank Omikron zum Glück mit vielen asymptomatischen und milden Verläufen. Jetzt steht der Winter vor der Tür und viele Fragen sich, was uns erwartet. Kommt eine neue Variante auf uns zu? Wird sie ähnlich mild wie Omikron oder eher aggressiv wie Delta? Kommen wir also mit einem blauen Auge über die kalte Jahreszeit oder müssen wir wieder Einschränkungen in Kauf nehmen?

Wir haben recherchiert und Antworten auf die wichtigsten Fragen zusammengetragen. Mit Rat, Tag und Expertise standen uns Dr. Joël Mossong und Prof. Dr. Dirk Brenner zur Seite. Joël Mossong (Foto: links) ist Epidemiologe bei der Direction de la Santé. Dirk Brenner (Foto: rechts) ist Immunologe. Er leitet die Abteilung für Experimentelle und Molekulare Immunologie am LIH und die Abteilung Immunologie und Genetik am Luxemburg Center für System Biomedicine (LCSB) der Universität Luxemburg.

In a nutshell: Wie wahrscheinlich ist eine neue, aggressivere Corona-Mutation in den nächsten Monaten?

Es ist relativ wahrscheinlich, dass bald wieder neue Varianten das Covid-Geschehen dominieren. Wann genau das sein wird, weiß aber keiner. Es ist eher wahrscheinlich, dass diese Varianten die Immunantwort umgehen und dass sie stark ansteckend sein werden. Ob sie aber virulenter – also krankmachender und tödlicher – und damit gefährlicher sein werden, unterliegt dem Zufall und ist nicht vorauszusagen.

Aber: Mittlerweile wissen wir viel besser, wie wir mit SARS-CoV-2 umgehen sollen. Auch hatten die meisten Menschen bereits durch Krankheit oder Impfung mit dem Virus Kontakt. Viele sogar mehrmals. Die große Mehrheit der Bevölkerung hat also einen guten Schutz vor schweren Verläufen. Dass das Virus unsere gesamte Gesellschaft nochmals in die Knie zwingt, ist demnach unwahrscheinlich.

Wie entstehen Mutationen?

Um sich zu vermehren, nutzt ein Virus die Körperzellen seines Wirtes. Es veranlasst sie, das Virenerbgut zu kopieren – je nach Virus ist das DNA oder RNA. Bei diesem Vorgang schleichen sich immer wieder Fehler in das virale Erbgut ein. Die sind zufällig und werden Mutationen genannt. Die meisten davon haben keinerlei Effekt auf das Virus. Manche haben einen negativen Einfluss auf das Virus. Andere hingegen verschaffen ihm einen Vorteil; lassen es beispielsweise schneller reproduzieren, leichter in den Körper eindringen oder die Immunabwehr umgehen.

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Was genau ist eine Mutation?

Desoxyribonukleinsäure, kurz DNA, und Ribonukleinsäure, kurz RNA, sind die Moleküle des Lebens. Beide tragen die Baupläne für alle Proteine, die den Organismus formen – und geben diese an die nächste Generation weiter. Geschrieben werden die Baupläne mit einem Alphabet, das aus lediglich vier „Buchstaben“ besteht: den Basen Adenin (A), Cytosin (C), Guanin (G) und Thymin (T). In der RNA wird anstelle des Thymin übrigens Uracil (U) benutzt. Während die Erbinformation von Mensch und Tier, Pflanze und Pilz, Bakterie und Archaea in der DNA gespeichert ist, liegt sie in einigen Viren – wie zum Beispiel SARS-CoV-2 – in der RNA.

Die Abfolge der Basen „oder Buchstaben“ in DNA und RNA ist der Code für die Proteine. Der Bauplan des SARS-CoV-2 Virus ist beispielsweise etwa 30.000 Buchstaben lang. Die müssen jedes Mal abgeschrieben werden, wenn das Virus in der Wirtszelle eine Kopie von sich anfertigen lässt. Dabei kommt es zu Schreibfehlern. Mal wird ein Buchstabe vergessen (Deletion). Mal wird er zu viel gesetzt (Insertion). Mal wird ein Buchstabe mit einem anderen vertauscht. Und manchmal auch ein ganzer Abschnitt. Das Ergebnis nennen Wissenschaftler eine Mutation. Und die wird an die nächste Generation weitergegeben.

Wovon hängt es ab, welche Mutation sich durchsetzen und welche nicht?

Ob sich eine Mutation durchsetzt, hängt von den Bedingungen ab, die das Virus vorfindet und ist eine Frage der natürlichen Auslese. Es gibt dabei prinzipiell zwei Richtungen, in die sich ein Virus entwickeln kann: die Fitnessmutante und die Immun-Escape-Mutante.

Fitnessmutanten sind ansteckender. Sie können also in gleicher Zeit mehr Wirte befallen und sich sehr schnell verbreiten. Allerdings lernt das Immunsystem nach jedem Kontakt mit einem Virus. Dringt dieses erneut ein, fährt unsere Abwehr hoch; der Körper schüttet spezielle Botenstoffe aus; wir fühlen uns schnell krank.

Immun-Escape-Mutanten hingegen können die Mechanismen des Immunsystems umgehen und damit unserer Immunabwehr entkommen. Sie können sich dadurch in Ruhe vermehren. Für uns hat das den angenehmen Nebeneffekt, dass wir weniger krank werden.

Welche Richtung ein Virus einschlägt, hängt vor allem davon ab, auf was für eine Bevölkerung es trifft. Besteht überhaupt kein Schutz, zum Beispiel weil ein Virus auf einen neuen Wirt übergesprungen ist, setzen sich in der Regel Fitnessmutanten durch. Das konnten wir zum Beispiel bei der Delta-Variante des SARS-CoV-2 Virus sehen. Trifft ein Virus aber auf eine weitestgehend immunisierte Bevölkerung, haben Immun-Escape-Varianten einen Vorteil und setzen sich in der Regel eher durch. Das sehen wir an der Omikron-Variante.

Delta war eine Fitnessmutante und die bisher letzte pandemische Variante. Omikron ist eine Immun-Escape-Mutante und die erste, die wir als postpandemisch oder endemisch bezeichnen können.

Dr. Dirk Brenner, Professor für Immunologie und Genetik

Die Evolution von Viren ist ein ständiger Wettlauf mit der Immunität in der Bevölkerung.

Dr. Joël Mossong, Epidemiologe

Wie häufig mutiert das Coronavirus?

Untersuchungen haben ergeben, dass Coronaviren durchschnittlich eine Mutation pro Monat also etwa 12 im Jahr aufweisen. Zum Vergleich: Influenzaviren, die Erreger der Grippe, mutieren in der Regel 25-mal im Jahr. Das liegt daran, dass Influenzaviren mehrere verschiedene Erbgutstränge haben. Diese sind nicht miteinander verbunden, können untereinander aber Codeabschnitte austauschen. Coronaviren können das nicht. Ihr Erbgut ist zwar größer – was mehr Möglichkeiten für Kopierfehler bietet. Doch sie haben einen eingebauten Reparaturmechanismus, der Influenzaviren fehlt. Die relative Zahl an Mutationen ist bei SARS-CoV-2 deshalb geringer als bei Influenza.

Allerdings befinden wir uns nicht in einem lokalen Geschehen wie bei den meisten jährlichen Grippeausbrüchen, sondern in einer Pandemie. Das heißt, es zirkulieren unvorstellbar viele SARS-CoV-2 Viren gleichzeitig auf der ganzen Welt. Zwar hat das Coronavirus eine geringere Mutationsrate, aber aufgrund der hohen Virusmenge und Vermehrung entstehen trotz dieser geringeren Wahrscheinlichkeiten viele Mutationen. Betrachtet man also die absolute Zahl der momentan im Umlauf befindlichen Mutationen, so ist diese bei SARS-CoV-2 aufgrund der hohen Viruslast höher als bei der momentanen „geringen Menge“ im Umlauf befindlichen Influenza Viren.

Wie wahrscheinlich ist eine neue Variante in den kommenden Monaten

Dass in den kommenden Wochen und Monaten eine neue Variante des SARS-CoV-2 Virus in Erscheinung treten und die bisherigen Varianten verdrängen wird, halten Wissenschaftler für so gut wie sicher. Wie sich diese Variante in puncto Ansteckungshäufigkeit, Krankheitsschwere und Tödlichkeit verhält, ist aber nicht vorhersagbar.

Es wäre naiv zu glauben, dass nach Omikron Schluss ist. Und wir werden sicher auch wieder eine Welle im Herbst oder Winter bekommen.

Dr. Dirk Brenner, Professor für Immunologie und Genetik

Es wird eine neue Variante geben, die sich durchsetzen wird. Es wird eine neue Winterwelle geben. Aber wir hoffen, dass diese wie die letzten drei Wellen werden wird.

Dr. Joël Mossong, Epidemiologe

Wird ein Virus mit der Zeit weniger tödlich?

Das scheint tatsächlich so zu sein. Ein Virus, das auf einen neuen oder nicht angepassten Wirt überspringt, kann bei diesem großen Schaden anrichten. Ein Beispiel dafür ist die als Russische Grippe in die Medizingeschichte eingegangene Pandemie (siehe Kasten). Aktuelle Forschungen gehen davon aus, dass es der ebenfalls zu den Corona-Viren gehörende Erreger mit dem Codenamen Oc43 war, der damals unzählige Todesopfer geforderte. Heute ist hingegen als normales Erkältungsvirus bekannt und für etwa 10 bis 15 Prozent der jährlichen Erkältungen verantwortlich.

Koevolution nennen Wissenschaftler den Prozess, in welchem sich Virus und Immunsystem aneinander anpassen. Dabei entsteht eine Balance, die das Virus in aller Regel weniger gefährlich macht. Nur wenn diese Balance zerstört wird – zum Beispiel bei einer Immunschwäche durch andere Krankheiten oder Medikamente – ergreift das Virus seine Chance.

Der Weg zu einer Koexistenz von Virus und Wirt ist aber lang und nicht geradlinig. Es können also durchaus Varianten entstehen, die ihre Vorgänger in Sachen Virulenz übertreffen.

Omikron war ein Glücksfall. Es konnte Geimpfte befallen und war weniger virulent. Dadurch hat sich eine hybride Immunität gebildet, die es zukünftigen Varianten schwerer macht. Um jetzt noch wirklich richtig reinzuhauen, müsste fast schon ein neues Virus kommen.

Dr. Joël Mossong, Epidemiologe

Ich denke, SARS-CoV-2 wird sich wohl zu einem eher harmlosen Erkältungsvirus entwickeln. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass es auch die eine oder andere Variante geben wird, die gefährlicher ist. Mit unserem Verhalten können wir aber tatsächlich die Entstehung neuer Varianten beeinflussen. Je mehr Menschen komplett geimpft, geboostert oder geimpft-infiziert sind, umso weniger Raum wird dem Virus gegeben und eher mildere Varianten werden das Resultat sein.

Dr. Dirk Brenner, Professor für Immunologie und Genetik

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Die Russische Grippe

Zwischen 1889 und 1895 grassierte eine Pandemie, die als Russische Grippe in die Annalen der Medizin Eingang gefunden hat. In vier Wellen fielen ihr weltweit etwa eine Million Menschen zum Opfer. Das waren immerhin 0,0625 Prozent der damaligen Weltbevölkerung von etwa 1,6 Milliarden Menschen. Zum Vergleich: Heute leben rund 7,96 Milliarden Menschen auf der Erde. Die aktuell rund 6,52 Millionen Covid-Toten entsprechen dabei etwa 0,082 Prozent – liegen also im ähnlichen Bereich wie die Russische Grippe.

Das scheint aber nicht die einzige Parallele zu sein. Denn ging man früher davon aus, dass ein Influenza-Virus für die Russische Grippe verantwortlich war, halten einige Wissenschaftler heute ein Coronavirus für wahrscheinlicher. Es könnte etwa vom Rind auf den Menschen gewechselt sein. Das Virus, das die Forscher für die Ursache der damaligen Pandemie halten, ist heute als eines der gewöhnlichen Erkältungsviren zwar immer noch lästig, aber kaum noch eine Gefahr.

Wie wahrscheinlich ist es, dass eine neue, tödlichere Variante, auch bereits immunisierte Menschen in hohem Maße tötet?

Auch wenn es nicht ausgeschlossen werden kann, halten Wissenschaftler eine solche Entwicklung für eher unwahrscheinlich. Denn wie bereits beschrieben, findet aktuell eine Koevolution von Mensch und SARS-CoV-2 statt. Denn nicht nur das Virus verändert sich. Unser Immunsystem passt sich ihm auch stetig an. Es entsteht eine sogenannte breite Immunität. Das heißt, nach Impfung oder Infektion nimmt das Immunsystem neue Mutanten schon vorweg und kann sie mit gewisser Effizienz bekämpfen. Je öfter wir also mit dem Virus in Kontakt kommen, umso mehr baut sich diese breite oder komplexe Immunität auf.

Dass sich eine neue, tödlichere Variante hervortritt, ist im Moment eher unwahrscheinlich. Der Grund ist die hybride Immunität. Das heißt, in Luxemburg sind beispielsweise etwa dreiviertel aller Menschen geimpft und über die Hälfte hatte schon mindestens einen positiven PCR-Test. Dadurch sind die verschiedenen Untervarianten von Omikron alle weniger virulent als der ursprüngliche Wuhan-Typ. Außerdem ist die Kreuzimmunität zwischen verschiedenen Omikron-Varianten hoch. Omikron ist aber ein Glücksfall. Es lässt sich also nicht gänzlich ausschließen, dass eine virulentere Variante entsteht.

Dr. Joël Mossong, Epidemiologe

Bei Delta hat man sich erst krank gefühlt, wenn man das Virus bereits weitergeben konnte. Das heißt, vor dem Auftreten ersten Krankheitssymptome war man bereits ansteckend. Ist die Wirtspopulation aber weitgehend immunisiert, schüttet der Körper beim erneuten Kontakt mit dem Virus spezielle Botenstoffe aus. Durch diese fühlen wir uns recht schnell krank. Wer sich krank fühlt, bleibt im Bett und steckt damit kaum noch andere an. Deshalb haben Fitnessmutanten jetzt weniger Chancen, sich zu vermehren. Stattdessen schlägt die Stunde der Immun-Escape-Mutanten. Die entgehen dem Immunsystem eine Weile und können sich dadurch in Ruhe vermehren. Für uns hat das den angenehmen Nebeneffekt, dass wir weniger krank werden.

Dr. Dirk Brenner, Professor für Immunologie und Genetik

Wie wahrscheinlich sind ein neuer Lockdown oder starke Einschnitte in unser Leben?

Starke Einschnitte in den Alltag bis hin zu einem Lockdown sollen die Ausbreitung einer Virusvariante verzögern. Denn wenn sich weniger Menschen anstecken, müssen auch weniger ins Krankenhaus. Es soll also verhindert werden, dass das Gesundheitssystem an seine Grenzen gerät. Ob aber eine neue Virusvariante zu mehr oder weniger Ansteckungen; zu milderen oder schwereren Verläufen; zu mehr oder weniger Todesfällen führt, lässt sich im Vorfeld nicht seriös vorhersagen. Entsprechend schwer fällt es der Wissenschaft, darauf eine konkrete Antwort zu geben.

Ob es einen Lockdown geben wird, ist keine Frage, die ein Wissenschaftler beantworten sollte. Wir können lediglich den aktuellen Stand des Wissens aufzeigen. Entscheidungen für oder gegen starke Einschnitte in unser aller Leben sind einzig und allein die Sache der politischen Entscheidungsträger.

Dr. Dirk Brenner, Professor für Immunologie und Genetik

Viele Länder – vielleicht mal mit Ausnahme von Deutschland – bauen Einschränkungen eher ab, als dass sie neue vorbereiten. Wir sollten hier auch keine Panik machen.

Dr. Joël Mossong, Epidemiologe

Autor: Kai Dürfeld (für scienceRELATIONS - Wissenschaftskommunikation)
Editor: Jean-Paul Bertemes (FNR)

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