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In Luxemburg feiern wir an diesem 9. Mai Europa: ein Symbol der Einheit in einer westlichen Gesellschaft, in der die Gräben manchmal immer tiefer zu werden scheinen. Einen Monat vor den Europawahlen im Juni 2024 wollten wir den Stand der Polarisierung in Europa auswerten.
Themen wie Gender, sexuelle Orientierung, Minderheiten, Migration, Umwelt oder auch der Nahe Osten scheinen uns in völlig gegensätzliche Lager zu trennen, insbesondere wenn es um Fragen der Identität geht. In diesen intensiv geführten ideologischen Debatten nehmen heftige Anschuldigungen häufig mehr Raum ein als der Austausch von plausiblen und vernünftigen Argumenten. Die Toleranz für jene, die eine andere Meinung vertreten, scheint zu schwinden. Ist dieser Eindruck einer zunehmenden Polarisierung realistisch, und wenn ja, bietet sie Anlass zur Sorge?
Im Folgenden fassen wir zusammen, was die Wissenschaft zum Thema Polarisierung zusammengetragen hat und welche Antworten sie auf die folgenden Fragen findet:
- Was ist Polarisierung, und wie lässt sie sich messen?
- Ist die Gesellschaft wirklich stärker polarisiert als früher?
- Ist Polarisierung schädlich?
- Worauf lässt sie sich zurückführen?
- Wie lässt sie sich abbauen?
Zusammenfassung
Polarisierung wird häufig als dramatischer gesellschaftlicher Bruch wahrgenommen, beschreibt in der Wissenschaft aber einfach Meinungsverschiedenheiten sowie Zusammengehörigkeitsgefühle. Es handelt sich also um ein in einer Demokratie ganz und gar übliches Phänomen. Polarisierung hat Nachteile, weil sie es beispielsweise schwerer macht, einen Kompromiss zu finden, aber auch Vorteile wie die Förderung der Wahlbeteiligung. Für die Politikwissenschaft wird sie erst ab einer gewissen Intensität, die sich bisher noch schwer abschätzen lässt, gefährlich.
Studien zeigen, dass sich die Situation in den einzelnen Ländern stark unterscheidet. Während die Polarisierung in einigen Nationen in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat, ist sie in anderen gleich geblieben oder zurückgegangen. Die wissenschaftliche Literatur widerlegt damit eindeutig den Eindruck einer einheitlich zunehmenden Polarisierung.
Ein Zweiparteiensystem (statt eines Mehrparteiensystems) und Informationsquellen (Medien, soziale Netzwerke, Fake News) können die Polarisierung verstärken, tun das aber nicht systematisch. Die sozialen Netzwerke beispielsweise bewirken offensichtlich nicht direkt und automatisch eine Intensivierung der Polarisierung. Das zeigt sich darin, dass ihre mittlerweile weit verbreitete Nutzung nicht zu einer allgemeinen Zunahme geführt hat.
In der Vergangenheit wurden verschiedene Strategien vorgeschlagen, um Polarisierung abzubauen oder ihre Zunahme zu bremsen. Dazu gehören die Sicherstellung einer gewissen Meinungsvielfalt in den Medien, die Bekämpfung von Fake News oder auch die stärkere Einbeziehung der Bevölkerung in die politischen Debatten. Der Wissenschaft ist es bisher noch nicht gelungen, die Wirksamkeit dieser Strategien zu ermitteln. Sie weist jedoch darauf hin, dass die Polarisierung der Bevölkerung der Polarisierung der Politiker*innen folgt – und dass diese daher die Macht haben, die Situation zu ändern, indem sie sich einander annähern.
Wissenschaftlicher Hintergrund dieses Artikels
Wir haben etwa ein Dutzend wissenschaftliche Artikel und Sachstandsberichte berücksichtigt. Die Messungen der Polarisierung sind relativ solide und kohärent. Die Analyse der sie begünstigenden oder verringernden Faktoren hingegen bleibt häufig qualitativ mit nur wenigen einzelnen quantitativen Studien.
Was ist Polarisierung, und wie lässt sie sich messen?
Polarisierung bezeichnet erstmal nur die Tatsache, dass unterschiedliche Meinungen nebeneinander bestehen. Wenn sie zunimmt, gewinnen die extremen Positionen an Bedeutung, während die Standpunkte in der Mitte zurückgehen. Das lässt sich in der Politik, in den Medien, in der Gesellschaft und auch auf der individuellen psychologischen Ebene beobachten und studieren.
Ideologische, gesellschaftliche und affektive Polarisierung
Man unterscheidet unterschiedliche Arten von Polarisierung.
- Die ideologische Polarisierung bezieht sich auf abweichende politische Ansichten (wie links oder rechts, Sozialismus oder Kapitalismus, Eingreifen des Staates oder freie Marktwirtschaft, Protektionismus oder Globalisierung, ...). Dabei unterscheidet man
- die Polarisierung der Eliten – der Parteien und politischen Vertreter*innen
- und die Massenpolarisierung – der Bevölkerung und der Wählerschaft.
- Die gesellschaftliche Polarisierung beschreibt die Trennung zwischen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, die sich weniger über ihre politischen Ansichten als über Identitätsmerkmale definieren (wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Alter, Herkunft, Sprache, Religion, soziale Schicht, Zugehörigkeit zur Stadt- oder Landbevölkerung, freiwillige oder unfreiwillige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe (etwa „Boomer“ oder „Generation Z“) oder Zivilisation („Westen“)).
- Die affektive Polarisierung bezieht sich auf den emotionalen Aspekt. Sie beschreibt, dass wir positive Gefühle für die Gruppe hegen, die unsere Position vertritt, und negative Gefühle für die Gruppen, die anderer Ansicht sind.
Polarisierung messen
Ideologische Polarisierung lässt sich durch die Analyse der Positionen der Parteien und ihres Abstimmungsverhaltens auf der Grundlage von Umfragen zu politischen Themen oder Selbsteinschätzungen („Ich fühle mich links“ usw.) messen. Sie lässt sich beziffern, indem man statistisch auswertet, wie sich die Positionen unterscheiden und wie stark extreme oder im Gegenteil Mittelpositionen vertreten sind.
Bei der affektiven Polarisierung werden die Gefühle in Umfragen mit direkten („Sind Sie dieser Partei gegenüber positiv oder negativ eingestellt?“; „Sind Sie wütend auf diese Partei?“) oder indirekten Fragen („Wie bewerten Sie die Ehrlichkeit und Großzügigkeit der Mitglieder dieser Partei?“; „Würden Sie sie gern zum Essen zu sich nach Hause einladen?“) oder bei psychologischen Versuchen erfasst. Auch die Auswertung der Ausrichtung von online, insbesondere in den sozialen Netzwerken veröffentlichten Texten gibt Hinweise auf die Empfindungen der Menschen.
Einige Messungen der affektiven Polarisierung berechnen den Unterschied zwischen den positiven Gefühlen für Angehörige der eigenen Gruppe und den negativen Gefühlen für Angehörige der entgegengesetzten Gruppe. Anschließend muss ermittelt werden, ob die Polarisierung in erster Linie auf die Zugehörigkeit, auf Ablehnung oder auf eine Mischung aus beidem zurückzuführen ist.
Ist die Gesellschaft wirklich stärker polarisiert als früher?
Die USA erleben eine zunehmende Polarisierung, da die von Republikanern und Demokraten vertretenen Ansichten immer stärker voneinander abweichen. In Europa hingegen ist die Lage komplexer. Zwar weisen Medien, Politik und die Bevölkerung verstärkt auf eine angebliche Zunahme der Polarisierung hin, wissenschaftliche Studien weisen jedoch Entwicklungen nach, die sich von Land zu Land stark unterscheiden: Einige sehen einen Anstieg der Polarisierung, andere ein Stagnieren oder gar einen Rückgang. Insgesamt widerlegen die Studien den Eindruck, die Gesellschaft sei allgemein, in ihrer Gesamtheit und überall gleichermaßen stärker polarisiert als in der Vergangenheit. Sie weisen auch darauf hin, dass die eindimensionale Spaltung zwischen links und rechts komplexeren Ausrichtungen gewichen ist.
Polarisierung erscheint uns präsenter
Trotzdem nimmt die Bevölkerung die Gesellschaft eher als gespalten wahr, und das bereitet ihr Sorgen. So waren mehr als zwei Drittel der 2019 in Deutschland Befragten der Ansicht, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden sei. Der Eindruck ist jedoch uneinheitlich: Während 37 % der Befragten denken, dass man heute offener über Politik sprechen kann als früher, nehmen 41 % keine Veränderungen wahr.
Die Vision einer polarisierten Gesellschaft ist eindeutig nicht neu, wie das Konzept des Klassenkampfes im Marxismus oder die Theorien der politischen Spaltung in den 1960er-Jahren zeigen.
In den USA ist die zunehmende Polarisierung eindeutig, insbesondere seit der Präsidentschaft von Donald Trump und der dramatischen Intensivierung der Spannungen zwischen Republikanern und Demokraten. Hinzu kommen ältere ideologische Divergenzen zu Themen wie Abtreibung, Rassenfragen oder Klimawandel.
Die Hitzigkeit, mit der die Debatten in den USA geführt werden, überrascht die europäischen Gemüter und lässt manchmal vergessen, dass die Lage hier eine ganz andere ist, vor allem weil das amerikanische Zweiparteiensystem in Europa die Ausnahme darstellt.
Der Eindruck einer insgesamt polarisierteren Gesellschaft hängt zum Teil damit zusammen, dass mehr darüber gesprochen wird, insbesondere in den Medien. So verwendet die deutschsprachige Presse mit Polarisierung zusammenhängende Begriffe heute viermal häufiger als in den 1980er-Jahren.
Entwicklung der Häufigkeit von mit „Polar-“ beginnenden Wörtern in der deutschsprachigen Presse. Daten aus dem DWDS-Zeitungskorpus.
Polarisierung in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt
Bei der Polarisierung handelt es sich mitnichten um ein universelles Phänomen. Im Gegenteil sind ihre Intensität und Entwicklung in den verschiedenen westlichen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt und es sind sowohl Zunahmen als auch Stagnation und Rückgänge festzustellen.
Eine Studie der Entwicklung der ideologischen Polarisierung im Hinblick auf gesellschaftliche Aspekte liefert ein sehr kontrastreiches Bild: sichtbarer Rückgang der Polarisierung zwischen 2006 und 2019 in Österreich, leichter Rückgang (Italien, Niederlande) oder Stagnieren (Belgien, Dänemark) einerseits und moderater (Großbritannien, Spanien, Deutschland) bzw. deutlicher Anstieg (Griechenland, Schweden, Finnland) andererseits.
Entwicklung der ideologischen Polarisierung zwischen 2006 und 2019, gemessen anhand der Unterschiede in der Positionierung der politischen Parteien auf einer Skala von 0 bis 10. Daten aus Ideological Polarization and Far-Right Parties in Europe (2022).
Für die OECD-Länder ergibt sich in einer Studie der Entwicklung der affektiven Polarisierung, genauer gesagt der Gefühle für Mitglieder verschiedener Parteien, ein ähnlich vielschichtiges Bild. Sie hat sich in den USA zwischen 1980 und 2020 von 25 auf 50 verdoppelt und als besorgniserregend oder sogar alarmierend wahrgenommene Werte erreicht. (Der Wert 100 entspricht maximaler Sympathie für die eigene und maximaler Antipathie für die entgegengesetzten Gruppen.)
Während der Anstieg in der Schweiz vergleichbar ist, weisen andere Länder (Frankreich, Dänemark, Kanada, Neuseeland) eine moderatere Zunahme der Polarisierung, Stagnation (Japan, Australien) oder gar einen Rückgang (Vereinigtes Königreich, Norwegen, Schweden) auf. So ist die affektive Polarisierung in Deutschland um gut ein Drittel von 40 auf 25 gesunken, was den Eindruck eines gesamthaften Anstiegs der Polarisierung in Europa widerlegt.
Auswirkung polarisierender Themen
Themen mit großem Spaltungspotential wie Corona, der Aufstieg des Postfaktischen im Zusammenhang mit Donald Trump oder auch Debatten um Fragen der Identität (Minderheit, Gender, sexuelle Orientierung, Dekolonialisierung usw.) haben in letzter Zeit großen Raum in den Debatten in Medien und Politik eingenommen, was den Eindruck einer stark, gar unumkehrbar gespaltenen Gesellschaft erweckt.
Dieser Eindruck bestätigt sich jedoch nicht immer. Eine breit angelegte Studie in Deutschland zeigt, dass vor Corona mehr Menschen (41 %) die Gesellschaft als unversöhnlich gespalten wahrnahmen als währenddessen (32 %).
Entwicklung der affektiven Polarisierung in den letzten 40 Jahren auf einer Skala von 0 bis 100 Quelle: Cross-Country Trends in Affective Polarization (2024)
Ist Polarisierung schädlich?
Der aktuelle Diskurs stellt Polarisierung häufig als schädlich dar. Ihr Anstieg sei gefährlich, weil er politische Diskussionen unmöglich mache und die Gesellschaft im Rahmen einer Aushöhlung der Demokratie in den Populismus und Autoritarismus abdriften lasse.
Aber diese Einschätzung ist eine Vereinfachung. Die Politikwissenschaft erkennt außerdem gewisse Vorteile der Polarisierung an, insbesondere die Förderung der demokratischen Beteiligung. Eine extreme Polarisierung ist zweifelsohne schädlich, aber die Wissenschaft diskutiert noch, ab welcher Intensität Probleme auftauchen.
Vorteile von Polarisierung
Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist ein gewisser Grad an ideologischer Polarisierung gesund. „Das vollständige Fehlen von Polarisierung würde bedeuten, dass es keine Debatte gäbe, und würde zu einer starken konservativen Trägheit führen. Gesellschaftliche Weiterentwicklung wäre unwahrscheinlich“, erklärt Markus Wagner von der Universität Wien. Fortschritt erfordert zwingend eine gewisse ideologische Polarisierung im Sinne politischer Meinungsunterschiede zwischen Befürwortern und Gegnern einer Veränderung.
Die ideologische Polarisierung hilft, politische Positionen zu klären und fördert in moderater Intensität Debatten. Sie lässt sich auch begreifen als begrüßenswerte Folge der zunehmenden Inklusion von Minderheitenmeinungen (selbst dann, wenn diese an den Extremen positioniert sind).
Die affektiven Aspekte werden manchmal als „irrational“ dargestellt, dies aber zu Unrecht, erinnert Markus Wagner, denn „die Entstehung von Gruppenidentitäten ist in der Gesellschaft vollkommen normal. Sie kann ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und trägt zur Entwicklung von Solidarität bei.“ Die affektive Polarisierung erhöht die politische Beteiligung der Bevölkerung, insbesondere die Wahlbeteiligung, weil sie sie „für“ oder „gegen“ bestimmte Parteien oder Themen mobilisiert und fördert ihr Engagement bei Bürgerinitiativen oder öffentlichen Projekten.
Nachteile von Polarisierung
Polarisierung kann zu einer Lähmung der politischen Institutionen führen, da sie Diskussionen blockiert und Konsens, Kompromisse und sogar Mehrheiten verhindert. Sie kann der politischen Kultur schaden, weil sie zu einer größeren Aggressivität zwischen politischen Vertreter*innen führt und die Zentralisierung von Macht fördert. Insgesamt kann man sagen, dass sie die Suche nach Lösungen für komplexe Probleme mutmaßlich erschwert.
Polarisierung kann das Vertrauen der Bevölkerung in das politische System schwächen und zu Frustration bei denjenigen führen, die das Gefühl haben, nicht gehört worden zu sein oder zu den Verlierern zu gehören. Sie kann eine sektiererische Dynamik in Gang setzen, bei der die Gegnerschaft zu den „Anderen“ uns davon abhält, ihnen zuzuhören und uns ohne kritisches Hinterfragen alles akzeptieren lässt, was die „Unsrigen“ sagen oder tun, selbst dann, wenn es sich dabei um antidemokratische oder illegale Positionen oder Verhaltensweisen handelt. Das lässt sich an einigen Entwicklungen rund um Donald Trump zeigen.
Die politische und gesellschaftliche Polarisierung fördert tendenziell auch die Polarisierung in den Medien. So wird eine sich selbst verstärkende Spirale in Gang gesetzt. Sie kann auch sehr konkrete Folgen haben: Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Lagern während der Corona-Pandemie lassen sich unterschiedlichen Infektions- und Todesraten zuordnen. Das ist letztlich auch gut nachvollziehbar, da unsere Einstellungen nicht abstrakt bleiben, sondern sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen niederschlagen.
Worauf lässt sich Polarisierung zurückführen?
Bei der Polarisierung handelt es sich um ein komplexes Phänomen. Von den Medien, der Politik oder der Bevölkerung vorgebrachte Interpretationen, Analysen und Hypothesen konnten größtenteils durch wissenschaftliche Studien nicht fundiert bestätigt werden. Zahlreiche Faktoren wurden bereits angesprochen und diskutiert.
Politisches System und politische Kultur
Im Allgemeinen folgt Massenpolarisierung (der Bevölkerung) der Polarisierung der Eliten (der politischen Vertreter*innen), erläutert Markus Wagner: Je größer die Unterschiede zwischen den Positionen der Parteien sind, desto weiter driften die Einstellungen der Menschen auseinander. Und diese Polarisierung der Eliten wird sicherlich durch das politische System beeinflusst.
Das System zweier sich diametral gegenüberstehender Parteien, die sich in der Regierung abwechseln, scheint einen fruchtbaren Boden für Polarisierung zu schaffen. Bestes Beispiel sind die Demokraten und Republikaner in den USA. In anderen Ländern, deren System von zwei Parteien dominiert wird, wie das Vereinigte Königreich, Australien, Neuseeland, Kanada, Japan oder Indien, ist die Polarisierung jedoch nicht so stark ausgeprägt wie in den USA.
Die logische Schlussfolgerung wäre, dass Mehrparteiensysteme weniger stark polarisiert sind, da sie die Bildung von Koalitionen und Kompromisse erfordern und Zusammenarbeit gewöhnt sind. Aber auch hier ist die Realität komplexer. Die Schweiz weist trotz ihrer Kultur des politischen Kompromisses und vier großen Parteien, die sich die Macht teilen, ein hohes Polaritätsniveau auf.
Ein Präsidialsystem kann zwar binäres Denken fördern (weil man sich für oder gegen den Präsidenten oder die Präsidentin ausspricht), ein kausaler Zusammenhang zu Polarisierung konnte jedoch nicht nachgewiesen werden.
Informationsquellen
Die (traditionellen und sozialen) Medien beeinflussen die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit. Unsere Medienlandschaft ist vielfältiger, zugänglicher und reaktionsschneller geworden und zeichnet sich auch durch die gestiegene Nutzung von Auswahl- und Analysealgorithmen aus. Diese Entwicklung hat die Herausbildung ideologischer Blasen begünstigt: Menschen wählen jene Informationsquellen aus, die ihrer eigenen Meinung entsprechen, und die Medien wählen jene Informationen aus, die der erwarteten Meinung ihrer Leser- oder Zuschauerschaft entsprechen. Diese Reduzierung der Meinungsvielfalt und der Auseinandersetzung mit entgegengesetzten Standpunkten kann dazu beitragen, die eigene Ablehnung anderer zu zementieren. Die sensationalistische Aufbereitung von Informationen oder auch die Zunahme von Fake News können zu Polarisierung beitragen.
Es handelt sich hierbei jedoch im Wesentlichen um Hypothesen, da keine eindeutigen Kausalzusammenhänge nachgewiesen werden konnten. Studien deuten darauf hin, dass der Kontakt mit Meinungen, die von der eigenen abweichen, oder die Richtigstellung von Fake News Polarisierung verringern, manchmal aber auch verstärken können.
Sozialen Netzwerken wird häufig vorgeworfen, Polarisierung durch die Schaffung ideologischer Blasen und die Begegnung mit Hassrede und Fake News zu begünstigen. Ihre weltweit zunehmende Nutzung hat jedoch nicht zu einer entsprechenden Zunahme der Polarisierung geführt, was die Hypothese eines einfachen und offensichtlichen Kausalzusammenhangs entkräftet.
Insgesamt zeigt die Forschung einen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Netzwerke und Polarisierung. Dieser Literaturüberblick zeichnet jedoch ein differenziertes Bild mit negativen und positiven Effekten sozialer Netzwerke auf das politische Verhalten der Bevölkerung und die Demokratie allgemein. Auf der positiven Seite wird ein positiver Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Netzwerke und politischer Partizipation, Mobilisierung und politischem Wissen festgestellt. Auf der negativen Seite scheinen soziale Netzwerke Populismus und politische Radikalisierung zu fördern und das Vertrauen zu verringern.
Hinsichtlich der Bildung von Blasen sind die Ergebnisse gemischt: Einerseits fördern soziale Netzwerke die Bildung homogener sozialer Gruppen, andererseits erhöhen sie trotzdem die Vielfalt der Informationen, die die Menschen erreichen. Insgesamt zeichnet die Forschung ein komplexes und widersprüchliches Bild.
Polarisierung reduzieren
Medien und Politik sprechen oft vorschnell von der Notwendigkeit, Polarisierung zu bekämpfen und vergessen dabei, dass sie auch positive Aspekte hat. Wenn sie jedoch ein hohes Maß erreicht, ist sie schädlich. Welche Möglichkeiten gibt es, sie auf ein gesundes Maß zu reduzieren?
Ein erster Vorschlag wäre, die schädlichen Aspekte von Medien und sozialen Netzwerken zu bekämpfen, insbesondere die Bildung von Meinungsblasen und die Verbreitung von Fake News. Dabei ginge es darum, die Algorithmen zu verändern, um die Vielfalt der den Nutzern präsentierten Meinungen zu erhöhen und die Verbreitung von Fake News zu reduzieren oder inklusive digitale Räume zu schaffen. Es bleibt aber unsicher, ob diese Maßnahmen wirksam oder auch nur gewünscht sind, da der Einfluss von Medien und sozialen Netzwerken auf die Polarisierung nach wie vor breit diskutiert wird.
Ein weiterer Vorschlag ist der Rückgriff auf die deliberative Demokratie, die den Schwerpunkt auf eine rationale Diskussion unter Bürger*innen legt, indem sie Räume für den Meinungsaustausch schafft. Ihre Wirksamkeit scheint von der Einstellung der Teilnehmer*innen abzuhängen. In Diskussionsrunden, in denen ein solches Verfahren eingehalten wird, geht die Polarisierung eher zurück, während sie in Gruppen, die dem misstrauisch gegenüberstehen, steigt. Zeit mit Menschen zu verbringen, die man schätzt (Familie, Freund*innen, Kolleg*innen), die aber andere Meinungen vertreten als man selbst, könnte der Kontakttheorie zufolge zu einem Abbau von Polarisierung beitragen.
Letztlich „liegt die größte Verantwortung bei den Politiker*innen“, erklärt Markus Wagner, „da sie den größten Einfluss auf die Polarisierung der Bevölkerung, ihr politisches Engagement und die Demokratie insgesamt haben“.
Autor: Daniel Saraga
Redaktion: Jean-Paul Bertemes
Infobox
Entwicklung der affektiven Polarisierung in den letzten 40 Jahren auf einer Skala von 0 bis 100 Quelle: Cross-Country Trends in Affective Polarization (2024)
Ist Polarisierung schädlich?
Der aktuelle Diskurs stellt Polarisierung häufig als schädlich dar. Ihr Anstieg sei gefährlich, weil er politische Diskussionen unmöglich mache und die Gesellschaft im Rahmen einer Aushöhlung der Demokratie in den Populismus und Autoritarismus abdriften lasse.
Aber diese Einschätzung ist eine Vereinfachung. Die Politikwissenschaft erkennt außerdem gewisse Vorteile der Polarisierung an, insbesondere die Förderung der demokratischen Beteiligung. Eine extreme Polarisierung ist zweifelsohne schädlich, aber die Wissenschaft diskutiert noch, ab welcher Intensität Probleme auftauchen.
Vorteile von Polarisierung
Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist ein gewisser Grad an ideologischer Polarisierung gesund. „Das vollständige Fehlen von Polarisierung würde bedeuten, dass es keine Debatte gäbe, und würde zu einer starken konservativen Trägheit führen. Gesellschaftliche Weiterentwicklung wäre unwahrscheinlich“, erklärt Markus Wagner von der Universität Wien. Fortschritt erfordert zwingend eine gewisse ideologische Polarisierung im Sinne politischer Meinungsunterschiede zwischen Befürwortern und Gegnern einer Veränderung.
Die ideologische Polarisierung hilft, politische Positionen zu klären und fördert in moderater Intensität Debatten. Sie lässt sich auch begreifen als begrüßenswerte Folge der zunehmenden Inklusion von Minderheitenmeinungen (selbst dann, wenn diese an den Extremen positioniert sind).
Die affektiven Aspekte werden manchmal als „irrational“ dargestellt, dies aber zu Unrecht, erinnert Markus Wagner, denn „die Entstehung von Gruppenidentitäten ist in der Gesellschaft vollkommen normal. Sie kann ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und trägt zur Entwicklung von Solidarität bei.“ Die affektive Polarisierung erhöht die politische Beteiligung der Bevölkerung, insbesondere die Wahlbeteiligung, weil sie sie „für“ oder „gegen“ bestimmte Parteien oder Themen mobilisiert und fördert ihr Engagement bei Bürgerinitiativen oder öffentlichen Projekten.
Nachteile von Polarisierung
Polarisierung kann zu einer Lähmung der politischen Institutionen führen, da sie Diskussionen blockiert und Konsens, Kompromisse und sogar Mehrheiten verhindert. Sie kann der politischen Kultur schaden, weil sie zu einer größeren Aggressivität zwischen politischen Vertreter*innen führt und die Zentralisierung von Macht fördert. Insgesamt kann man sagen, dass sie die Suche nach Lösungen für komplexe Probleme mutmaßlich erschwert.
Polarisierung kann das Vertrauen der Bevölkerung in das politische System schwächen und zu Frustration bei denjenigen führen, die das Gefühl haben, nicht gehört worden zu sein oder zu den Verlierern zu gehören. Sie kann eine sektiererische Dynamik in Gang setzen, bei der die Gegnerschaft zu den „Anderen“ uns davon abhält, ihnen zuzuhören und uns ohne kritisches Hinterfragen alles akzeptieren lässt, was die „Unsrigen“ sagen oder tun, selbst dann, wenn es sich dabei um antidemokratische oder illegale Positionen oder Verhaltensweisen handelt. Das lässt sich an einigen Entwicklungen rund um Donald Trump zeigen.
Die politische und gesellschaftliche Polarisierung fördert tendenziell auch die Polarisierung in den Medien. So wird eine sich selbst verstärkende Spirale in Gang gesetzt. Sie kann auch sehr konkrete Folgen haben: Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Lagern während der Corona-Pandemie lassen sich unterschiedlichen Infektions- und Todesraten zuordnen. Das ist letztlich auch gut nachvollziehbar, da unsere Einstellungen nicht abstrakt bleiben, sondern sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen niederschlagen.
Worauf lässt sich Polarisierung zurückführen?
Bei der Polarisierung handelt es sich um ein komplexes Phänomen. Von den Medien, der Politik oder der Bevölkerung vorgebrachte Interpretationen, Analysen und Hypothesen konnten größtenteils durch wissenschaftliche Studien nicht fundiert bestätigt werden. Zahlreiche Faktoren wurden bereits angesprochen und diskutiert.
Politisches System und politische Kultur
Im Allgemeinen folgt Massenpolarisierung (der Bevölkerung) der Polarisierung der Eliten (der politischen Vertreter*innen), erläutert Markus Wagner: Je größer die Unterschiede zwischen den Positionen der Parteien sind, desto weiter driften die Einstellungen der Menschen auseinander. Und diese Polarisierung der Eliten wird sicherlich durch das politische System beeinflusst.
Das System zweier sich diametral gegenüberstehender Parteien, die sich in der Regierung abwechseln, scheint einen fruchtbaren Boden für Polarisierung zu schaffen. Bestes Beispiel sind die Demokraten und Republikaner in den USA. In anderen Ländern, deren System von zwei Parteien dominiert wird, wie das Vereinigte Königreich, Australien, Neuseeland, Kanada, Japan oder Indien, ist die Polarisierung jedoch nicht so stark ausgeprägt wie in den USA.
Die logische Schlussfolgerung wäre, dass Mehrparteiensysteme weniger stark polarisiert sind, da sie die Bildung von Koalitionen und Kompromisse erfordern und Zusammenarbeit gewöhnt sind. Aber auch hier ist die Realität komplexer. Die Schweiz weist trotz ihrer Kultur des politischen Kompromisses und vier großen Parteien, die sich die Macht teilen, ein hohes Polaritätsniveau auf.
Ein Präsidialsystem kann zwar binäres Denken fördern (weil man sich für oder gegen den Präsidenten oder die Präsidentin ausspricht), ein kausaler Zusammenhang zu Polarisierung konnte jedoch nicht nachgewiesen werden.
Informationsquellen
Die (traditionellen und sozialen) Medien beeinflussen die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit. Unsere Medienlandschaft ist vielfältiger, zugänglicher und reaktionsschneller geworden und zeichnet sich auch durch die gestiegene Nutzung von Auswahl- und Analysealgorithmen aus. Diese Entwicklung hat die Herausbildung ideologischer Blasen begünstigt: Menschen wählen jene Informationsquellen aus, die ihrer eigenen Meinung entsprechen, und die Medien wählen jene Informationen aus, die der erwarteten Meinung ihrer Leser- oder Zuschauerschaft entsprechen. Diese Reduzierung der Meinungsvielfalt und der Auseinandersetzung mit entgegengesetzten Standpunkten kann dazu beitragen, die eigene Ablehnung anderer zu zementieren. Die sensationalistische Aufbereitung von Informationen oder auch die Zunahme von Fake News können zu Polarisierung beitragen.
Es handelt sich hierbei jedoch im Wesentlichen um Hypothesen, da keine eindeutigen Kausalzusammenhänge nachgewiesen werden konnten. Studien deuten darauf hin, dass der Kontakt mit Meinungen, die von der eigenen abweichen, oder die Richtigstellung von Fake News Polarisierung verringern, manchmal aber auch verstärken können.
Sozialen Netzwerken wird häufig vorgeworfen, Polarisierung durch die Schaffung ideologischer Blasen und die Begegnung mit Hassrede und Fake News zu begünstigen. Ihre weltweit zunehmende Nutzung hat jedoch nicht zu einer entsprechenden Zunahme der Polarisierung geführt, was die Hypothese eines einfachen und offensichtlichen Kausalzusammenhangs entkräftet.
Insgesamt zeigt die Forschung einen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Netzwerke und Polarisierung. Dieser Literaturüberblick zeichnet jedoch ein differenziertes Bild mit negativen und positiven Effekten sozialer Netzwerke auf das politische Verhalten der Bevölkerung und die Demokratie allgemein. Auf der positiven Seite wird ein positiver Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Netzwerke und politischer Partizipation, Mobilisierung und politischem Wissen festgestellt. Auf der negativen Seite scheinen soziale Netzwerke Populismus und politische Radikalisierung zu fördern und das Vertrauen zu verringern.
Hinsichtlich der Bildung von Blasen sind die Ergebnisse gemischt: Einerseits fördern soziale Netzwerke die Bildung homogener sozialer Gruppen, andererseits erhöhen sie trotzdem die Vielfalt der Informationen, die die Menschen erreichen. Insgesamt zeichnet die Forschung ein komplexes und widersprüchliches Bild.
Polarisierung reduzieren
Medien und Politik sprechen oft vorschnell von der Notwendigkeit, Polarisierung zu bekämpfen und vergessen dabei, dass sie auch positive Aspekte hat. Wenn sie jedoch ein hohes Maß erreicht, ist sie schädlich. Welche Möglichkeiten gibt es, sie auf ein gesundes Maß zu reduzieren?
Ein erster Vorschlag wäre, die schädlichen Aspekte von Medien und sozialen Netzwerken zu bekämpfen, insbesondere die Bildung von Meinungsblasen und die Verbreitung von Fake News. Dabei ginge es darum, die Algorithmen zu verändern, um die Vielfalt der den Nutzern präsentierten Meinungen zu erhöhen und die Verbreitung von Fake News zu reduzieren oder inklusive digitale Räume zu schaffen. Es bleibt aber unsicher, ob diese Maßnahmen wirksam oder auch nur gewünscht sind, da der Einfluss von Medien und sozialen Netzwerken auf die Polarisierung nach wie vor breit diskutiert wird.
Ein weiterer Vorschlag ist der Rückgriff auf die deliberative Demokratie, die den Schwerpunkt auf eine rationale Diskussion unter Bürger*innen legt, indem sie Räume für den Meinungsaustausch schafft. Ihre Wirksamkeit scheint von der Einstellung der Teilnehmer*innen abzuhängen. In Diskussionsrunden, in denen ein solches Verfahren eingehalten wird, geht die Polarisierung eher zurück, während sie in Gruppen, die dem misstrauisch gegenüberstehen, steigt. Zeit mit Menschen zu verbringen, die man schätzt (Familie, Freund*innen, Kolleg*innen), die aber andere Meinungen vertreten als man selbst, könnte der Kontakttheorie zufolge zu einem Abbau von Polarisierung beitragen.
Letztlich „liegt die größte Verantwortung bei den Politiker*innen“, erklärt Markus Wagner, „da sie den größten Einfluss auf die Polarisierung der Bevölkerung, ihr politisches Engagement und die Demokratie insgesamt haben“.
Autor: Daniel Saraga
Redakteur: Jean-Paul Bertemes (FNR)