Chevigne S

LIH

Die Forscher des LIH (v.l.n.r.): Andy Chevigné, Martyna Szpakowska, Max Meyrath

Forscher der Abteilung Infection and Immunity am Luxembourg Institute of Health (LIH) haben ein Molekül entwickelt, das die natürlichen schmerzhemmenden und stimmungsaufhellenden Eigenschaften von sogenannten Opioiden verstärken könnte. Opioide sind kleine Proteine, die im Gehirn auf natürliche Weise gebildet werden. Sie beeinflussen eine Vielzahl von Emotionen und körperlichen Prozessen, wie Euphorie, Zuneigung, Motivation, aber auch Stress und Schmerzreaktionen. Ihre natürliche schmerzlindernde und stimmungsaufhellende Wirkung entfalten sie durch Interaktion mit vier spezifischen Opioid-Rezeptoren („molekulare Schalter“), die auf der Oberfläche von Gehirnzellen liegen.

Das von den Luxemburger Forschern entwickelte revolutionäre Molekül, das die Forscher LIH383 getauft haben, bindet an einen fünften, bisher wenig untersuchten und ungewöhnlichen Opioid-Rezeptor im Gehirn und blockiert diesen. Das Molekül LIH383 ist für die Entwicklung einer neuen Kategorie von Medikamenten für die Behandlung von akuten und chronischen Schmerzen, von Depressionen und sogar Gehirntumoren von wesentlicher Bedeutung.

Wie funktionieren Opioide-Scherzmittel wie Morphin & Co?

Das Opioid-System ist komplex und seine Funktionsweise noch nicht vollständig verstanden. Bei einer Stressantwort schüttet der Körper eigene Opioide aus, beispielsweise um eine akute Schmerz- oder Hungerantwort zu unterdrücken. Auf der anderen Seite können körpereigene Opioide wie Endorphin Euphorie hervorrufen. Die körpereigenen Opioide werden bei Verletzung, emotionalen Stimuli aber auch durch UV-Licht ausgeschüttet. Die Opioide binden an Opioid-Rezeptoren auf der Oberfläche von Nervenzellen, hauptsächlich im Gehirn, aber auch im Rückenmark und im Darm.

Zur Behandlung starker Schmerzen üblicherweise eingesetzte verschreibungspflichtige synthetische Opioide wie Morphin, Oxycodon und Fentanyl wirken zielgerichtet auf die Opioid-Rezeptoren ein und aktivieren sie. Die natürliche „Schmerz-Nachricht“ wird dann nicht mehr weiter geleitet; das Schmerzempfinden wird also verändert und der Schmerz gelindert.

Doch trotz ihrer Wirksamkeit sind diese Schmerzmittel häufig mit Nebenwirkungen wie Abhängigkeit und Atmungsproblemen verbunden. Deshalb müssen dringend neue Medikamente zur Schmerzlinderung gefunden werden – Medikamente mit anderen Wirkmechanismen und geringerem Komplikationsrisiko, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen „Public Health Crisis“ (der sog. Opioid-Krise) infolge des zunehmenden Missbrauchs von synthetischen Opioiden und der Abhängigkeit von solchen Mitteln.

Ein neues Molekül und ein ungewöhnlicher Opioid-Rezeptor

In diesem Zusammenhang hat das Forscherteam am LIH unter Leitung von Dr. Andy Chevigné das neue Molekül LIH383 entwickelt. LIH383 bindet an einen bisher wenig untersuchten und ungewöhnlichen Opioid-Rezeptor namens ACKR3.

„Wir konnten zeigen, dass der ACKR3-Rezeptor insbesondere im zentralen Nervensystem (Gehirn, Rückenmark) eine breite Palette an Opioiden binden kann und das Opioid-System negativ reguliert“, erklärt Andy Chevigne, Leiter der Studie. „Und zwar indem es die natürlichen Opioide „einfängt“, die normalerweise an die vier klassischen Opioid-Rezeptoren binden und diese aktivieren würden“. Der ACKR3-Opioid Rezeptor verringert also die Verfügbarkeit von natürlichen Opioiden im Nervensystem, und dämpft somit indirekt ihre schmerzlindernde und angstlösende Aktivität.

Eine neue Kategorie von Medikamenten?

Das neue Molekül LIH383 bindet an ACKR3 und blockiert diesen. Es verhindert also, dass der Rezeptor die natürlicherweise abgesonderten Opioide einfangen kann. Die Gesamtwirkung von LIH383 besteht also darin, dass mehr von den natürlichen, schmerzhemmenden und stimmungsaufhellenden Opioiden im Gehirn verfügbar sind.

„Unsere Ergebnisse brachten im Wesentlichen einen bisher unbekannten Mechanismus zur Feinabstimmung des Opioidsystems hervor, und um die Verfügbarkeit natürlicher Opioide therapeutisch zu beeinflussen, indem man auf ACKR3 abzielt, das fünfte Mitglied der Opioidrezeptorfamilie“, resümiert Andy Chevigné.

„Wir gehen davon aus, dass LIH383 bei der Entwicklung einer neuen Kategorie von Medikamenten zur Behandlung von Schmerzen und Depressionen eine Vorreiterrolle übernehmen wird und damit einen innovativen und eigenständigen Therapieansatz zur Bewältigung der Opioid-Krise bietet“, so Max Meyrath und Dr. Martyna Szpakowska, die beiden Erstautoren der Studie.

Wie geht es nun weiter?

 „Das Molekül ist eine Art Prototyp, die wir zunächst nur in sogenannten „ex vivo“-Modellen getestet haben, konkret in Gewebeschnitten aus Rattenhirn. Natürlich müssen nur wir noch viele weitere Experimente in vivo (Anm. der Redeaktion: in einem lebenden Organismus) durchführen und Verbesserungen vornehmen“, erklärt Andy Chevigné.

Er fährt fort: “Wir sind jetzt damit beschäftigt, die zweite Generation des LIH383 Moleküls zu entwickeln und haben Besprechungen in die Wege geleitet, wie wir dieses Programm am besten vorwärts bewegen können, also mit welchen Partnern (privat, öffentlich), mit welchen Modellen (in vivo) und mit welcher Finanzierung.“

Es sei jetzt nötig zu untersuchen, inwiefern die Manipulierung des ACKR3-Rezeptors Schmerzen, Stress und Abhängigkeit beeinflusst, was mögliche Nebeneffekte davon sind, sowohl auf das Opioid-System wie auch auf das Chemokin-System, so Andy Chevigné. Denn ACKR3 fängt auch Chemokine ein – Botenstoffe, die eine Rolle in vielen Bereichen spielen, insbesondere dem Immunsystem.

Neben alternativen Behandlung von chronischen Schmerzen, Stress, Angst und Depressionen, eröffnen die Ergebnisse aber auch vielleicht Möglichkeiten für Krebstherapien. Die Wissenschaftler vermuten sogar, dass das Molekül dazu beitragen könnte, bei Gehirntumoren das Tumorwachstum und die Bildung von Metastasen zu verlangsamen. Damit würde sich die Prognose der betroffenen Patienten verbessern.

Dazu sagt Andy Chevigné: „Wir untersuchen ACKR3 im Kontext von Glioblastomen (Anm. der Redaktion: Hirntumoren) seit mehr als sechs Jahren. Wir wissen, dass mehr ACKR3 in Glioblastomen vorhanden ist, und auch auf Blutgefässen, die mit dem Tumor verbunden sind. Und dass es einen positiven Effekt gibt, wenn man den Rezeptor therapeutisch anvisiert. Aber wir haben LIH383 bisher nicht bei Glioblastomen getestet, würden es aber gerne in naher Zukunft probieren.“

Von der Grundlagenforschung zu konkreten Anwendungen

“Wir haben LIH383 ursprünglich entwickelt, um zu beweisen, dass ACKR3 ein sogenannter „scavenging receptor” ist, also Opoide einfangen kann“, sagt Andy Chevigné. “Als wir damit fertig waren, erkannten wir schnell sein Potenzial als Prototyp einer neuen Klasse therapeutischer Moleküle“, so Andy Chevigné.

 „Dies ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie sich Grundlagenforschung in konkrete Anwendungen mit greifbaren Vorteilen für die Patienten umsetzen lässt und zu besseren klinischen Ergebnissen führt“, so Prof. Markus Ollert, der Leiter des Department of Infection and Immunity am LIH und Co-Autor der Studie. „Zu verdanken ist der Erfolg unserer Arbeit allein der großzügigen und unermüdlichen Unterstützung durch den Fonds National de Recherche, das Ministerium für Hochschulwesen und Forschung und die gemeinnützige Initiative ‚Télévie’”, so Prof. Ollert.

Publikation

Dr. Andy Chevigné, Leiter des Bereichs Immuno-Pharmacology and Interactomics im Department of Infection and Immunity am Luxembourg Institute of Health (LIH), hat gemeinsam mit seinem Team Die Forschungsergebnisse am 19. Juni in der renommierten internationalen Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht.

Autor: LIH
Editor: Michèle Weber (FNR)

Infobox

Finanzierung und beteiligte Forschungsteams

Die Studie wurde durch Fördermittel des Ministeriums für Hochschulwesen und Forschung (MESR), des Fonds National de la Recherche (FNR) und des Fonds de la Recherche Scientifique (FNRS-Télévie) unterstützt. M. Meyrath und M. Merz sind vom Fonds National de la Recherche geförderte Doktoranden. M. Ollert hat Fördermittel vom Fonds National de la Recherche erhalten und ist Koordinator des FNR-finanzierten Doktoranden-Ausbildungsprogramms NEXTIMMUNE. J. Ohnmacht und R. Krüger wurden vom Fonds National de la Recherche (MaMaSyn und PEARL) und von der Pelican Foundation unterstützt. T. Benkel und E. Kostenis erhielten Fördermittel von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Die Studie wurde in enger Zusammenarbeit mit luxemburgischen und internationalen Partnern durchgeführt. Beteiligt waren das Department of Infection and Immunity des LIH, die LIH-Einheit Transversal Translational Medicine, das Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB) an der Universität Luxemburg, das Department of Life Sciences and Medicine der Universität Luxemburg, die Molecular, Cellular and Pharmacobiology Section des Instituts für pharmazeutische Biologie der Universität Bonn, die Neurophysiology Unit der Universität Liège (Belgien), die Research Training Group der Universität Bonn sowie das Department of Dermatology and Allergy des Odense Research Center for Anaphylaxis (ORCA) an der Universität von Süddänemark.

Über das Luxembourg Institute of Health: Research dedicated to life

Das Luxembourg Institute of Health ist ein öffentliches Forschungsinstitut an der Spitze der biomedizinischen Wissenschaften. Mit seinem Knowhow in den Schwerpunkten öffentliche Gesundheit, Krebserkrankungen, Infektion und Immunität sowie in der Lagerung und Bearbeitung von biologischen Proben, engagiert sich das Institut durch seiner Forschungsarbeiten für die Gesundheit der Menschen. Am Luxembourg Institute of Health arbeiten mehr als 300 Personen mit dem gemeinsamen Ziel das Wissen über Krankheitsmechanismen voranzutreiben und so neue Diagnoseverfahren, innovative Therapieansätze und effiziente Tools für die personalisierte Medizin zu entwickeln.

Über das Department of Infection and Immunity

LIHs „Department of Infection and Immunity“ ist eine Grundlagen und klinisch-anwendungsorientierte Forschungseinrichtung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die komplexen Mechanismen infektiöser und entzündlicher Erkrankungsprozesse zu verstehen um innovative Konzepte zur Krankheitsdiagnose, Prävention und Therapie zu erstellen. Innerhalb eines interdisziplinären Forschungsumfeld, konzentriert sich das „Department of Infection and Immunity“ auf experimentelle Forschung, hingehend zu klinischen Anwendungen und Technologieentwicklung, um dringende medizinische Probleme in den Bereichen Entzündung (wie Allergie, Asthma, Autoimmunität), Krebs und Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis, Masern, Röteln) anzugehen.

Wissenschaftlicher Ansprechpartner:

Dr. Andy Chevigné

Group Leader, Immuno-Pharmacology and Interactomics Department of Infection and Immunity

Luxembourg Institute of Health E-Mail: Andy.Chevigne@lih.lu

Pressekontakt

Arnaud D’Agostini

Head of Marketing and Communication Luxembourg Institute of Health

Tel.: +352 26970-524

E-Mail: arnaud.dagostini@lih.lu

 

Juliette Pertuy

Deputy Head of Marketing and Communication Luxembourg Institute of Health

Tel.: +352 26970-893

E-Mail: juliette.pertuy@lih.lu

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