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Baustellen, Straßenverkehr, Schwerindustrie – die Welt ist mitunter eine lauter Ort. Was man im Alltag als störend empfinden kann, hat jedoch noch ganz andere Auswirkungen: Schwingungen, die von diesen und anderen Lärmquellen ausgehen, pflanzen sich im Untergrund fort und stören die hochempfindlichen Messgeräte von Seismologen, mit denen diese Erdbeben auf der Spur sind.
Durch die Corona-Krise und die „Lockdown“ Maßnahmen ist es jedoch plötzlich ruhig im Untergrund geworden, wie eine in der renommierten Fachzeitschrift „Science“ veröffentlichte Studie nun zeigt: Ein internationales Team aus 76 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat die Chance des „Lockdowns“ genutzt, um zu untersuchen, wie sich die plötzlich verordnete Stille bemerkbar gemacht hat.
Schwächerer Erdbeben leichter erkennen
In Luxemburg hat Adrien Oth vom Europäischen Zentrum für Geodynamik und Seismologie in Walferdange an der Veröffentlichung mitgearbeitet. Der Forscher berichtet, welche Schwierigkeiten der menschgemachte Lärm für die Arbeit der Geowissenschaftler mitunter bedeutet: „Das menschgemachte Rauschen ist für die Beobachtung von kleinen Erdbeben auf regionaler und lokaler Ebene ein großes Problem, da beides in einem ähnlichen Frequenzbereich stattfindet. Wenn an einem Ort starkes menschgemachte Rauschen vorkommt, ist es oft schwierig, brauchbare Signale von Erdbeben zu extrahieren“.
Während der Stille der letzten Monate konnten die Forscher nun hingegen Signale erkennen, die sonst vermutlich unentdeckt geblieben wären: So hat beispielsweise eine seismische Station in Mexiko ein mittelstarkes Erdbeben der Magnitude 5 in 380 Kilometer Entfernung aufgezeichnet, ohne, dass die Wissenschaftler Störsignale herausfiltern mussten. Die zuverlässige Detektion auch kleinerer Erdbeben spielt eine wichtige Rolle in der Seismologie, da diese Aufschluss über das dynamische Verhalten von Bruchzonen geben können und ein wichtiges Puzzlestück sind, um die Prozesse, die zur Entstehung größerer Erdbeben führen, besser verstehen zu können.
Die Kenntnis, wie die Signaturen schwächerer Erdbeben aussehen, kann den Forschern nun helfen, diese auch künftig zu identifizieren, dann, wenn das Rauschen wieder lauter wird. Zwar suchen sie weiterhin quasi die Nadel im Heuhaufen, nun wissen sie aber, wie die Nadel aussieht, was die Suche erleichtert. „Inzwischen ist das Hintergrundrauschen an den meisten Orten vermutlich wieder auf normalem Niveau angekommen“, vermutet Adrien Oth. „Jetzt kann aber die Suche nach zuvor versteckten Signalen beginnen, da wir wissen, wie diese in etwa aussehen“.
Weltweite Suche nach zuvor unentdeckten Signalen
Dass das menschgemachte seismische Hintergrundrauschen nicht immer gleich stark ausgeprägt ist, war den Forschern schon vorher klar: So zeigen ihre Messgeräte etwa an Wochenenden weniger störendes Rauschen, oder etwa zu Weihnachten, wenn die Welt buchstäblich zu Ruhe kommt. „Mein Kollege Thomas Lecocq hatte sich zu Beginn der Krise seismische Daten aus Belgien angeschaut“, berichtet Oth, wie es zu der Untersuchung kam. „Das hat viel Interesse hervorgerufen und eine enorme Eigendynamik entwickelt, so dass er angeregt hat, sich das auch global anzugucken“. Tatsächlich hat sich daraus eine weltumspannende Zusammenarbeit ergeben, bei der etwa Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Luxemburg bis Italien, von den USA bis Griechenland, von Bolivien bis nach Großbritannien für ein gemeinsames Ziel Daten zusammengetragen haben.
Rauschen nicht nur Störsignal
Inzwischen wird die Welt nun also wieder lauter, der seismische „Sound of silence“ scheint erst einmal einem Ende entgegen zu gehen. Für die Arbeit der Seismologen ist das nicht unbedingt nur schlecht, wie Oth erklärt: „Früher hat man das seismische Rauschen nur als Störsignal empfunden, da man ausschließlich Erdbeben aufzeichnen wollte. Alle anderen Daten hat man – auch aus Mangel an Speichermöglichkeiten – schlicht verworfen. Seit gut zwei Jahrzehnten nutzt man das Rauschen aber mehr und mehr auch als eigenständiges Signal. Wenn man zum Beispiel Korrelationen zwischen mehreren Stationen herstellt, kann man inzwischen aus dem Rauschen gute Informationen über den Untergrund gewinnen“. Und da die Forscher jetzt besser wissen, wonach sie suchen müssen, können sie aus diesem Rauschen jetzt auch die Signale schwächerer Erdbeben herauslesen.
Ein Rauschen kann jedoch selbst der strikteste Lockdown nicht verhindern und dieses ist natürlicher Art. Das Rauschen des Meeres zeichnen die Instrumente der Forscher bis ins Innerste der Kontinente auf. Das menschliche Gehör kann das seismische Rauschen in diesem Frequenzbereich zwar nicht wahrnehmen – doch selbst wenn dem so wäre: Wie könnte Meeresrauschen stören?
Author: Tim Haarmann
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