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Laut WHO besteht ein Gesundheitssystem aus „allen Organisationen, Institutionen, Ressourcen und Menschen, deren primärer Zweck ist, die Gesundheit zu verbessern." Jüngste Ereignisse wie die Coronavirus-Pandemie (COVID-19) haben die essenzielle Rolle der Gesundheitssysteme für den Schutz der Bevölkerung verdeutlicht. Politische Entscheidungsträger müssen demnach in der Lage sein, zu priorisieren und Ressourcen auf vorrangige Bereiche zu konzentrieren. Aber wie können die Entscheidungsträger fundierte Entscheidungen treffen?

Genau hier setzt der Beruf des Gesundheitsökonomen an. Zwei Luxemburger Forscher erklären uns, wie das funktioniert.

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Dr. Valérie Moran

Dr. Valérie Moran ist promovierte Gesundheitsökonomin und Forscherin im Bereich der Gesundheitsdienste am Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (LISER) und am Luxembourg Institute of Health (LIH). Das LIH und das LISER haben die CARES-Forschungsgruppe aufgestellt, in der Valerie Moran ebenfalls tätig ist und welche die wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Bereichen Gesundheitsökonomie, Versorgungsforschung, öffentliche Gesundheit und Umweltgesundheit fördert. Die Hauptforschungsinteressen von Dr. Moran liegen im Bereich der Leistungsfähigkeit von Gesundheitssystemen. Sie interessiert sich für bestimmte Sektoren wie die Primärversorgung und die psychiatrische Versorgung sowie für das Thema Zugang zur Gesundheitsversorgung, gemessen an Wartezeiten und ungedecktem Bedarf.

Valérie Moran arbeitet gerne interdisziplinär und hat bereits mit Kollegen aus verschiedenen Gebieten zusammengearbeitet: Epidemiologie und öffentliche Gesundheit, Soziologie und Sozialpolitik, Politikwissenschaft, Recht, Management, Psychologie und Psychiatrie. Mehr Infos auf der Internetseite des LISER.

Prof. Marc Suhrcke

Marc Suhrcke leitet das abteilungsübergreifende Forschungsprogramm "Gesundheit und Gesundheitssysteme" am LISER und ist Professor für globale Gesundheitsökonomie am Centre for Health Economics (CHE) an der Universität York in Großbritannien.

Zuvor war er Professor für Public Health Economics an der University of East Anglia (UEA), UK, und hatte Forschungspositionen bei der Weltgesundheitsorganisation, dem UNICEF Innocenti Research Centre, der Universität Hamburg, der European Bank for Reconstruction and Development, dem Centre for European Policy Studies (Brüssel), der Europäischen Kommission (Brüssel) und dem Hamburg Institute for International Economics inne.

Seine Forschung befasst sich mit einem breiten Spektrum gesundheitsökonomischer Aspekte, einschließlich der sozioökonomischen Determinanten und Folgen von Gesundheit und gesundheitlicher Ungleichheit, sowie mit der Bewertung der Auswirkungen von Maßnahmen auf Bevölkerungs- und Systemebene auf die Gesundheit und damit verbundene Ergebnisse. Zusammen mit Dr Maria Ruiz-Castell leitet er die CARES-Forschungsgruppe. Mehr Infos auf der Internetseite des LISER.

Wie kann der Gesundheitsökonom dem Gesundheitswesen zu Hilfe kommen?

VM: Meine Arbeit ermittelt Bereiche, in denen das Gesundheitssystem verbessert werden kann, und informiert mögliche politische Lösungen. Ich habe z.B. die Besucherzahlen der luxemburgischen Notaufnahmen untersucht, da diese eine starke logistische und wirtschaftliche Herausforderung darstellen. Ich habe ebenfalls das Projekt APPEAL (Assessment of Primary Care Performance in Luxembourg) geleitet, dass zwischen 2020 und 2022 stattgefunden hat; dieses hat sich mit einer ausführlichen Bewertung der Leistung der Primärversorgung in Luxemburg im Vergleich zu anderen europäischen Ländern befasst.

MS: Meine Forschung kommt dem Gesundheitssystem folgendermaßen zugute:

  • indem Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Maßnahmen (wie z. B. die Reform der Krankenversicherung) funktionieren oder nicht; 
  • indem die wirtschaftlichen Argumente für Investitionen in die Gesundheit und die Gesundheitssysteme unterstützt werden;  
  • indem die politischen Entscheidungsträger darüber informiert werden, wie mit einem begrenzten Budget die größten Gesundheitsgewinne erzielt werden können. (Selbst ein Land wie Luxemburg hat Haushaltszwänge!)

 

Können Sie mir in ein paar Sätzen ihre Arbeit, bzw. Ihren spezifischen Forschungsbereich beschreiben?

VM: Meine Hauptforschungsinteressen sind die Leistungsfähigkeit von Gesundheitssystemen (u.a. in Bereichen wie Primärversorgung, psychiatrische Versorgung und Zugang zur Gesundheitsversorgung). Diese Leistungsfähigkeit bezieht sich auf konkrete Dinge wie Wartezeiten, Erreichbarkeit der Versorgungsstrukturen, Früherkennung von Krankheiten Komplikationsraten aber auch Kosten, Bettenzahlen, Modernität der Infrastruktur, Anzahl an benötigten Arbeitskräften…

MS: Meine Arbeit umfasst ein breites Spektrum, darunter:

  • die sozioökonomischen Determinanten und Folgen von Gesundheit, gesundheitlicher Ungleichheit und Behinderung
  • die Ökonomik des Gesundheitsverhaltens, d.h. der Impakt des Lebensstils (Essen, Sport, Lebensraum, berufliche und freizeitliche Aktivitäten…)
  • die Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung (denn ohne von Gewinn zu sprechen, muss diese Versorgung natürlich für die Gesellschaft bezahlbar bleiben), d.h. die Verteilung von Ressourcen, die Analyse der Kosten…  
  • die Auswirkungen politischer Maßnahmen auf die Gesundheit und auf das Gesundheitswesen.

Ich beschäftige mich mit Ländern mit niedrigem, mittlerem und hohem Einkommen weltweit. Ich habe z.B. dieses Jahr eine Publikation eingereicht, die sich mit dem Gesundheitsfinanzierungssystem in mehreren Ländern niedrigen oder mittleren Einkommens befasst (d.h. überwiegend aus eigener Tasche, aus der sozialen Krankenversicherung oder staatlich finanziert).

 

Wo liegen die Grenzen Ihrer Wissenschaft?

VM: Um die Gesundheitsversorgung zu verbessern ist es von entscheidender Bedeutung, mit anderen wichtigen Interessengruppen zusammenzuarbeiten, insbesondere mit Klinikern, Patientenvertretern und politischen Entscheidungsträgern. Nur so können unsere Empfehlungen umgesetzt werden.

MS: Die möglicherweise weit verbreitete Vorstellung, dass sich die (Gesundheits-)Ökonomie nur um Geld kümmert, könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Zudem ist sie sehr wohl in der Lage, Gerechtigkeitsaspekte zu berücksichtigen. Dennoch ist sie insofern begrenzt, als sie den Beitrag verwandter Disziplinen benötigt – insbesondere Public Health, Medizin, Epidemiologie, Soziologie usw. Die Gesundheitsökonomie bietet eine Sicht auf die Welt. Wenn sie richtig verstanden wird, kann sie viele verschiedene Aspekte umfassen.

 

Was sind aus der Sicht eines Gesundheitsökonomen die größten kommenden Herausforderungen für das (luxemburgische) Gesundheitswesen?

VM: Es scheint ein gewisser Konsens darüber zu bestehen, dass das Problem der Arbeitskräfte eine große Herausforderung darstellt. Dies hat sich während der COVID-19-Pandemie noch deutlicher gezeigt. Einige der Lösungen (z. B. die eventuelle Verlagerung ärztlicher Tätigkeiten auf Krankenschwestern und andere Gesundheitsfachkräfte) sind spezifisch für den Gesundheitssektor, während andere Lösungsansätze, z. B. die Attraktivität Luxemburgs, einen sektorübergreifenden Ansatz erfordern.

MS: Ja, die Frage des Gesundheitspersonals scheint in Luxemburg ein zentrales Thema zu sein. Aber ich sehe eine ebenso große Herausforderung darin, die wachsende Belastung durch chronische Krankheiten zu bewältigen, von denen ein Großteil durch das Gesundheitsverhalten der Menschen verursacht wird. Das luxemburgische Gesundheitssystem scheint sich nicht sonderlich um die präventive Seite der Gesundheitspolitik bemüht zu haben, und wenn doch, dann eher um Maßnahmen, die bekanntermaßen nicht besonders wirksam sind (z. B. Bereitstellung von Informationen, Medienkampagnen usw.). Das Gesundheitsverhalten ist in den meisten Ländern mit hohem Einkommen für die größte Krankheitslast verantwortlich! Und obgleich einige der Ursachen dafür eher am Rande des eigentlichen Gesundheitssystems liegen, muss das System dennoch als Anwalt für Veränderungen auftreten.  Ich glaube nicht, dass das jetzt schon geschieht.

 

Material, Personal, Digitalisierung, Telemedizin, Vorbeugung... Was braucht ein Gesundheitssystem in erster Linie, um gut (in Luxemburg) zu funktionieren?

VM: In Anlehnung an meine vorherige Antwort bin ich der Meinung, dass die Arbeitskräfte für ein gut funktionierendes Gesundheitssystem unerlässlich sind. Digitalisierung und Telemedizin können zwar dazu beitragen, indem die Effizienz des Personals gesteigert wird; sie können aber niemals das Personal ersetzen.

MS: Natürlich gibt es hier kein Patentrezept. Das Fundament eines jeden erfolgreichen Gesundheitssystems ist sicherlich die Primärversorgung, und diese funktioniert nicht ohne Personal. Aber auch die politischen Maßnahmen, die die Primärversorgung regeln, sowie die verfügbare Infrastruktur sind essenziell. Es scheint viele Erwartungen an neue Trends wie Digitalisierung und Präzisionsmedizin zu geben. Ich bezweifle zwar nicht, dass sie in einigen Bereichen nützlich sind, aber das Ausmaß, in dem sie wirklich einen substanziellen Beitrag zur Gesundheit der Bevölkerung in unserem Land leisten können, ist möglicherweise begrenzt.

 

Die Fédération des Hôpitaux Luxembourgeois (FHL) hat Anfang des Jahres eine Publikation veröffentlicht (Livre Blanc), in dem 6 relevante Ziele für den Krankenhaussektor und die Gesundheit allgemein dargelegt wurden. Haben Sie an der Erstellung dieses Buches mitgewirkt? Wie beurteilen Sie die Umsetzbarkeit der Empfehlungen?

VM: Ich habe an der Ausarbeitung zwar nicht mitgewirkt, aber ich denke, dass diese Veröffentlichung wichtige Schwerpunktbereiche hervorhebt. Die Empfehlungen sind ehrgeizig, und um die erwünschten Ergebnisse zu erzielen, werden Prioritäten gesetzt und sich auf ein oder zwei kritische Themen konzentriert werden müssen.

MS: Ich teile hier Valeries Einschätzung. Vielleicht würde ich das ein wenig erweitern und sagen, dass das Konzept der transparenten Prioritätensetzung im Gesundheitswesen in Luxemburg nicht aktiv verfolgt wird - vielleicht weil es zu wenige Gesundheitsökonomen gibt. Selbst in einem so wohlhabenden Land wie Luxemburg kann nicht alles getan werden. Es muss entschieden werden, wo die Prioritäten liegen, und diese Entscheidungen sollten sich auf Fakten stützen. Die Kosten-Wirksamkeits-Analyse - ein wichtiges "Instrumentarium" der Gesundheitsökonomen - bietet in diesem Zusammenhang einen wichtigen und transparenten Ansatz.

Anm. der Redaktion: Sie kann z.B. erwägen, wie sinnvoll der Erwerb bestimmter Technologien ist (wie der chirurgische „Da-Vinci“-Roboter), oder das Investieren in Präventionskampagnen, Entwöhnungskampagnen, Screening-Programme…

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Die 6 relevanten Ziele der FHL

1. Die Krankenhausmedizin im Jahr 2030 soll mehrere Kriterien vereinen: einen vollständigen medizinischen Studiengang auf luxemburgischem Gebiet; eine größere Attraktivität des Krankenhaussektors (liberales/vertragliches Hybridmodell, Beteiligung an Forschung und Lehre) ...

2. Die Patientenwege im Jahr 2030 sollen sich an die Gegebenheiten adaptieren (höhere Prävalenz chronischer Krankheiten, Alterung der Bevölkerung, Budget...). Es sollen neue Berufe entstehen, wie z. B. "Case Manager" und "Advanced Practice Nurses".

3. Die Digitalisierung im Jahr 2030 unterstützt Prävention und Versorgung gleichermaßen. Medizinische Daten sind sowohl für die Akteure des Gesundheitswesens als auch für den Patienten selbst leicht zugänglich, z.B. durch die Einführung gemeinsamer Tools (mobile Anwendungen, Wearables ...).

4. Das Datenmanagement im Jahr 2030 soll eine prädiktive und personalisierte Medizin ermöglichen, die auf die einzigartigen Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten ist und gleichzeitig den Schutz der Patientendaten gewährleistet. Angestrebt wird auch eine größere Transparenz durch die Veröffentlichung von Leistungsindikatoren und statistischen Berichten, die der breiten Öffentlichkeit zugänglich sind.

5. Die Personalressourcen im Jahr 2030 werden sich zahlreichen Herausforderungen stellen müssen. Eine genaue Planung der Anzahl auszubildender Fachkräfte ist von entscheidender Bedeutung, sowie das sorgfältige Vorbeugen von Nachbesetzungen. Bevölkerungswachstum, Alterung der Bevölkerung sowie Veränderungen in der medizinischen Praxis und Technologie müssen berücksichtigt werden. Neue Ausbildungen für Gesundheitsfachkräfte müssen eingerichtet werden, um für Erneuerung und Attraktivität zu sorgen.

6. Die Finanzierung des Krankenhaussektors im Jahr 2030 wird derzeit diskutiert; die FHL analysiert verschiedene Finanzierungskonzepte, um das am besten geeignete Konzept zu entwerfen. Gesundheitsförderung und Prävention sollen dazu beitragen, die kurative Versorgung zu reduzieren und damit die Kosten für das System zu senken. Die Überlastung bestimmter Krankenhausabteilungen (z.B. Notaufnahmen) soll durch ein besseres Verständnis des Gesamtsystems vermieden werden.

Aus Sicht Ihrer Wissenschaft: Welche Zukunftsszenarien sind möglich?

VM: Es gibt viele Gründe, optimistisch zu sein. Auf der Grundlage der verfügbaren Daten schneidet das luxemburgische Gesundheitssystem im Verhältnis zu den anderen europäischen Ländern gut ab. Allerdings gibt es auch wichtige Datenlücken, die geschlossen werden müssen. Ein konkretes Beispiel: Aus einigen europäischen Erhebungen geht hervor, dass die medizinische Versorgung in Luxemburg gut gedeckt ist. In diesen Daten sind jedoch einige schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen nicht enthalten, von denen wir erwarten würden, dass sie beim Zugang zur Gesundheitsversorgung auf Hindernisse stoßen (z. B. Menschen ohne formale Beschäftigung oder Krankenversicherungsschutz). Es ist daher sehr wichtig, sich dieser Informationslücken bewusst zu sein, und sich um eine vollständige Evidenzbasis zu bemühen. Nur so können fundierte Entscheidungen getroffen werden.

MS: Wie viele andere Länder in Europa und darüber hinaus hat auch Luxemburg mit einer alternden Bevölkerung und damit einer wachsenden Zahl von Menschen mit chronischen Krankheiten zu kämpfen. Das Land ist außerdem mit einer Krankheitslast konfrontiert, die zum Großteil auf ein schlechtes Gesundheitsverhalten zurückzuführen ist (was einen enormen Druck auf das Gesundheits- und Sozialfürsorgesystem ausübt). Die Faktoren, die diesen Verhaltensweisen zugrunde liegen, können und sollten von den politischen Entscheidungsträgern berücksichtigt werden, anstatt es auf vermeintlich freie individuelle Entscheidungen zu schieben.

 

Interview/Redaktion: Diane Bertel

Editorin: Michele Weber (FNR)

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