2005 wurden die ersten staatlich strukturierten und geförderten Maison Relais in Luxemburg eingeführt. Immer mehr Familien greifen auf dieses Betreuungsangebot zurück. Ab dem 12. September sind Maisons Relais während der Schulwochen nun kostenlos für Kinder ab 4 Jahren. Die luxemburgische Regierung sieht dies vor allem als wichtige Maßnahme, um gleiche Bildungschancen für jedes Kind, unabhängig von familiärem Umfeld und Herkunft zu garantieren. Jedoch bleibt dieser Trend nicht ganz ohne Kritik: Einige Experten und Studien bringen negative Auswirkungen, wie zum Beispiel Verhaltensauffälligkeiten oder höhere Stresslevel der Kinder, mit dem Aufenthalt in Betreuungsstrukturen in Verbindung.
Wir haben mit drei Forscherinnen gesprochen –Nicole Hekel und Anette Schumacher von der Universität Luxemburg und Audrey Bousselin vom LISER. Sie erforschen, wie sich der Alltag in Kindertagesstätten auf das Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder auswirkt. Wir wollten u.a. von ihnen wissen, was es mit oben genannter Kritik auf sich hat. Audrey Bousselin und Nicole Hekel haben bei Studien mitgewirkt, die als Grundlage galten für den nationalen Bericht zur Situation der Kinder in Luxemburg, der dieses Jahr zum ersten Mal erschien. Hier der Link zu diesem Bericht. Zusätzlich haben wir recherchiert und die Resultate von Studien aus Luxemburg und anderen Ländern zusammengetragen.
Für Eilige gibt es hier die wichtigsten Punkte auf einen Blick:
- Drei luxemburgische Studien kamen zu dem Ergebnis, dass das Wohlbefinden der Kinder in Betreuungsstrukturen in Luxemburg allgemein hoch ist. Es gibt aber durchaus auch Kinder, die sich dort nicht gut fühlen.
- Kinder scheinen ihr Wohlbefinden generell positiver einzuschätzen, als dies die Betreuer oder Eltern tun.
- Betreuungsstrukturen können sich sowohl positiv als auch negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken: Das hängt stark von der Qualität der Betreuung und der Lebens- und Familiensituation der Kinder ab. Am meisten profitieren Kinder, wo die Familiensituation nicht gut ist, und die Betreuungsqualität in der Maison Relais hoch ist. Am wenigsten Kinder, wo umgekehrt die Familiensituation gut, die Betreuungsqualität in der Maison Relais jedoch schlecht ist.
- Faktoren, die einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden der Kinder haben können, sind unter anderem: gut ausgebildetes Personal, die Möglichkeit der Kinder zur Teilhabe und Mitbestimmung sowie ihr Gefühl von Zugehörigkeit.
- Einen negativen Einfluss hingegen können u.a. zu große Gruppengrößen haben, sowie Zeitmangel des Personals, große Räume mit hohem Geräuschpegel, wenig Rückzugsorte, wenn die Kinder sehr jung sind und viel Zeit in der Maison Relais verbringen.
- Welchen Einfluss die kostenlose Kinderbetreuung auf die Gesellschaft in Luxemburg hat, kann man nicht vorhersagen. Studien aus anderen Ländern sind rar und widersprüchlich: Eine Studie zeigte, dass Mütter mehr arbeiten gehen, eine andere jedoch, dass noch mehr Mütter sich dazu entschließen auf Teilzeit-Arbeit umzusteigen.
- Insgesamt gibt es noch nicht viele Studien zum Wohlergehen der Kinder in Maisons Relais in Luxemburg. Weitere Studien wären nötig, um robustere Resultate zu erzielen.
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Dr. Anette Schumacher ist Diplom-Psychologin und als Postdoc im Centre for Childhood and Youth Research (CCY) an der Universität Luxemburg beschäftigt. Sie arbeitet im Bereich Kindheits- und Jugendforschung zu den Themen Wohlbefinden, non-formale Bildung und Transition und ist Mitautorin des Nationalen Berichts zur Situation der Jugend in Luxemburg von 2015 und 2020.
Audrey Bousselin ist Forscherin am Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (LISER). Sie arbeitet in der Abteilung Lebensbedingungen des LISER, wo sie sich auf frühkindliche Interventionen, politische Analysen und die Verwaltung großer Datensätze spezialisiert hat. Sie war Mitantragstellerin von Forschungszuschüssen auf nationaler und europäischer Ebene zu den Themen Kinderbetreuungspolitik, Elternurlaub und Ungleichheiten in der Bildung. Gleichzeitig hat sie verschiedene politische Projekte zur Familien- und frühkindlichen Bildungs- und Betreuungspolitik geleitet, sowie mehrere Studien über Familien auf nationaler Ebene konzipiert und betreut.
Nicole Hekel ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Centre for Childhood and Youth Research (CCY) an der Universität Luxemburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind sozialwissenschaftliche und soziologische Kindheitsforschung, Pädagogik der frühen Kindheit sowie Partizipation, Inklusion und Wohlbefinden.
Was ist der nationale Bericht zum Wohlbefinden von Kindern in Luxemburg? Und wie wurde er erstellt?
Der nationale Kinderbericht ist dieses Jahr zum ersten Mal im Auftrag vom Bildungsministerium (Ministère de l'Education nationale, de l'Enfance et de la Jeunesse) erschienen und wurde von der Universität Luxemburg, der Eberhard Karls Universität Tübingen sowie dem LISER durchgeführt. Ziel des Berichts war es, das Wohlbefinden der in Luxemburg lebenden Kinder im Alter von 0 bis 12 Jahren in verschiedenen Lebenssituationen (u.a. Familie, Schule, Betreuungsstrukturen) zu ermitteln.
Der Kinderbericht beruht auf den Resultaten von zwei verschiedenen Studien:
- Die erste Einzelstudie Partizipation und Inklusion von Kindern in Strukturen der non-formalen Bildung in Luxemburg ist eine Feldstudie, bei der zwei Wissenschaftler in verschiedene Betreuungsstrukturen (zwei Maisons Relais und drei Crèches) während jeweils 2 Wochen den Alltag miterlebt und Beobachtungen gesammelt haben. Im Fokus standen hierbei die Faktoren Inklusion und Partizipation, sprich wie die Kinder in den Alltag eingebunden wurden, ob sie sich zugehörig gefühlt haben und den Alltag mitgestaltet haben. Diese Studie wurde von Nicole Hekel der Universität Luxemburg und Sascha Neumann der Universität Thübingen durchgeführt.
- Die zweite Studie Le bien-être des enfants: ce qu’en disent les enfants ist eine quantitative und für Luxemburg repräsentative Studie. Alle Kinder (bzw. deren Eltern) im Alter von 8, 10 und 12 Jahren, die in Luxemburg wohnen, wurden in 2019 und nochmal in 2021 kontaktiert. Teilnehmende haben einen standardisierten Fragebogen ausgefüllt und Fragen zu ihrer Lebenssituation und ihrem Wohlbefinden ausgefüllt. Dieser Fragebogen wurde von einer multidisziplinären Forschergruppe entwickelt und seit 2013 in mehr als vierzig Ländern getestet und validiert. (https://isciweb.org). Diese Studie wurde vom Luxembourg Institute of Science and Technology durchgeführt.
Wie geht es den Kindern in den Maisons Relais in Luxemburg?
Drei Studien, die bislang in Luxemburg zum Wohlbefinden von Kindern in Betreuungsstrukturen durchgeführt wurden, schlussfolgern, dass die überwiegende Mehrheit der Kinder dort ein allgemein hohes Wohlbefinden haben, es ihnen dort also gut geht.
Die 3 luxemburgischen Studien, auf die wir in diesem Artikel verweisen:
- Le bien-être des enfants : ce qu’en disent les enfants – Résultats d’une enquête représentative (Bousselin)
- Partizipation und Inklusion von Kindern in Strukturen der non-formalen Bildung in Luxemburg. (Neumann & Hekel)
- Wohlbefinden von Kindern im Alter von 4-12 Jahren in der Maison Relais. (Schumacher)
Die erste hier genannte Studie ist eine quantitative Studie. Hier wurden fast 8.000 Kinder im Alter von 8, 10 und 12 Jahren mittels Fragebogen selbst befragt: Es handelt sich hierbei also um das subjektive Wohlbefinden der Kinder. Fragen waren zum Beispiel: Freust du dich, hinzugehen? Mögt ihr die Aktivitäten, die ihr dort macht und könnt ihr diese mitbestimmen? Fühlt ihr euch von den Erziehern und den anderen Kindern unterstützt?
Audrey Bousselin, Forscherin in der Abteilung Living Conditions des Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (LISER) und Autorin der Studie sagt zum Ergebnis: „In den untersuchten Altersgruppen gab die große Mehrheit an, zufrieden mit ihrem Alltag in der Betreuungsstruktur zu sein und gerne dorthin zu gehen. ¾ der Kinder gaben an, dass sie dort eine gute Zeit haben“.
Die zweite oben genannte Studie ist eine objektive Beobachtungsstudie, die auf dem Feld durchgeführt wurde. Hier wurden verschiedene Maisons Relais und Crèche beobachtet, also Kinder von 0-12 Jahren. Sie fand ein ähnliches Resultat, sagt Nicole Hekel, Wissenschaftlerin an der Uni Luxemburg und Expertin für Frühkindliche Bildung und Betreuung sowie Mitautorin der Studie: „Wir sind wochenlang in Betreuungsstrukturen gegangen und haben beobachtet, wie der Alltag dort so abläuft. Klar haben wir gesehen, dass nicht immer alles glatt läuft und ab und zu Konflikte zwischen Kindern, Personal und Eltern entstehen. Überwogen haben aber die Momente, in denen die Kinder viel gelacht haben und offensichtlich eine gute Zeit hatten“.
Die dritte oben genannte Studie (Schumacher) bezieht sich auf eine große luxemburgische Maison Relais (ca. 600 Kinder). „85% der befragten Kinder gaben an, gerne in die Maison Relais zu gehen“, sagt Anette Schumacher, Wissenschaftlerin im Centre for Childhood and Youth Research (CCY) an der Universität Luxemburg. „Gleichzeitig gaben jedoch 30% der Kinder an, sich nur „ein wenig gut“ und 7,1% sich „gar nicht gut“ zu fühlen.“
Der Mehrheit der Kinder scheint es in der Maison Relais also gut zu gehen. Gehen sie denn auch gerne dorthin, oder sind sie lieber zuhause oder gar in der Schule?
Die Studie von Schumacher fand, dass die allermeisten Kinder (95%) ihr eigenes Zuhause bevorzugen. „Ein zu erwartendes Ergebnis“, sagt Anette Schumacher. „Jedoch gaben 73% an, dass sie sogar lieber zur Schule gehen als in die Maison Relais bevorzugen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kinder nicht gerne in die Maison Relais gehen. Eine Erklärung für die Präferenz für die Schule könnte der Studie durch einen geregelteren Tagesablauf und des klar erwarteten Verhaltens in der Schule bedingt sein.“
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Wohlbefinden wird in der Literatur verschieden definiert. Laut nationalem Kinderbericht (2022) kann man das Wohlbefinden als ein multidimensionales Konzept ansehen, bei dem die subjektive Wahrnehmung des Lebens der Kinder im Mittelpunkt steht. Demnach setzt sich das Wohlbefinden aus den positiven und negativen Gefühlen und Erfahrungen und der allgemeinen Zufriedenheit in unterschiedlichen Bereichen (zum Beispiel Familie, Freunde, Freizeit) zusammen, aber auch aus objektiven Lebensaspekten wie zum Beispiel materiellen Ressourcen und Möglichkeiten der Mitbestimmung ihres Alltags.
Wie sehr kann man den Aussagen von Kindern trauen? Wissen diese, was gut für sie ist?
„Unter Wissenschaftlern ist man sich einig, dass die Kinder selbst befragt werden sollen, wie sie ihr Leben und ihre Erfahrungen wahrnehmen und wie sie sich fühlen. Klar merken Kinder nicht immer, was ihnen guttut und was nicht. Oder sie geben Antworten an, von denen sie glauben, dass die Erwachsenen sie von ihnen erwarten. Um ein ganzheitliches Bild zu erhalten, ist es deshalb wichtig, auch den Erwachsenenkreis um das Kind herum zu befragen. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass die Eltern die Situation und Gefühlslage der Kinder während des Lockdowns anders eingeschätzt haben als die Kinder selbst“, sagt Bousselin. „Welchen Aussagen man dann mehr Gewicht gibt, ist von der Situation abhängig.“
Wie schätzen denn die Betreuer und Eltern das Wohlbefinden der Kinder ein?
In der Studie von Schumacher wurden auch das Personal und die Eltern befragt:
„2/3 des Betreuungspersonals schätzte das Wohlbefinden der Kinder als positiv (jedoch nicht hoch) ein, während dagegen etwa ein Drittel das Wohlbefinden „eher niedrig“ oder sogar „überwiegend niedrig“ einschätzte. Darüber hinaus gab die Hälfte an, dass sie glaubten, die Kinder bekämen nicht genügend emotionale Zuwendung. Mehr als zwei Drittel glaubten auch, dass die Kinder aufgrund des Zeitmangels in der Maison Relais nicht genügend gefördert werden können“, sagt Schumacher.
„Die Eltern schätzten das Wohlbefinden der Kinder als allgemein hoch ein, jedoch tendenziell etwas schlechter als die Kinder selbst.“
Welche Faktoren in Betreuungsstrukturen haben einen Einfluss auf das Wohlbefinden der Kinder?
In der Fachliteratur gilt das Wohlbefinden der Kinder als ein multidimensionales Konzept: Viele verschiedene Faktoren in verschiedenen Lebensbereichen haben einen Einfluss darauf, wie es den Kindern geht.
„Aus der Literatur wissen wir, dass unter anderem die Rahmenbedingungen der Struktur, wie die Gruppengrößen oder die Qualifikation der Betreuer, wichtige Faktoren sind”, so Anette Schumacher. „Beispielsweise ist es besser, die Fläche in viele kleine Räume einzuteilen, da eine zu hohe Geräuschkulisse und mangelnde Rückzugsorte belastend für die Kinder sein können.“
Was laut Nicole Hekel auch eine Rolle spielt, ist, ob die Kinder sich zugehörig fühlen und ob sie das Gefühl haben, die alltäglichen Aktivitäten mitbestimmen zu können. Sie nennen das Inklusion und Partizipation.
„Aber auch die Anzahl an Stunden, die ein Kind in Betreuungsstrukturen verbringt, scheint eine Rolle zu spielen. Eine zu lange Verweildauer in den Strukturen scheint sich eher negativ auf das Wohlbefinden der Kinder auszuwirken“, so Audrey Bousselin. „Das weiß man von Studien aus anderen Ländern. Wir machen dazu aber auch gerade noch Studien hier in Luxemburg, über die Zusammenhänge zwischen dem Wohlbefinden der Kinder und den Eigenschaften der Betreuung".
Welche Faktoren können in luxemburgischen Betreuungsstrukturen noch verbessert werden?
„Die Umfragedaten zeigen: Der Faktor, der im Vergleich zu den anderen (beispielsweise das Sicherheitsgefühl oder Gefühl, gut umsorgt zu sein) schlechter abgeschnitten hat, ist die Mitbestimmung: Manche Kinder haben das Gefühl, den Alltag nicht mitbestimmen zu können. Man könnte also sagen, dass dies etwas ist, was verbessert werden könnte. Jedoch muss man auch bedenken, dass nicht alles in der Praxis umsetzbar ist. In einer Gruppe von Kindern kann es eine große Herausforderung für die Betreuer sein, immer einen Kompromiss zu finden. Darüber hinaus gibt es einige Aspekte, die schwer zu diskutieren sind, wie z. B. Sicherheitsstandards, die eingehalten werden müssen“, so Audrey Bousselin.
„Ein weiterer Punkt, der ausbaufähig ist, ist die Bekanntheit der Rechte von Kindern und Jugendlichen bei Eltern und Kindern. Die Frage nach dem Wohlbefinden von Kindern ist nämlich eng verbunden mit der Umsetzung der Kinderrechte. Sie scheinen schon zu wissen, dass es sie gibt, jedoch nicht unbedingt, was diese genau beinhalten.“, meint Nicole Hekel.
In der Studie von Schumacher wurden auch die Verbesserungswünsche der Eltern und der Betreuer in dieser Maison Relais erhoben. „Eltern wünschten sich kleinere Gruppen für eine individuellere Betreuung, verstärkte Kommunikation zwischen Betreuern und Eltern und einen liebevolleren Umgang mit den Kindern.“
Laut Schumacher ist die Mehrheit der Betreuer zudem nicht sehr zufrieden mit ihren alltäglichen Aufgaben als pädagogisches Personal: „76% des Personals in dieser Maison Relais fühlten sich in ihrer Arbeit etwas entfremdet: Administration und Organisation würden im Vordergrund stehen. Da bleibe nicht mehr viel Zeit für das, wozu sie eigentlich ausgebildet wurden: Pädagogik. Außerdem wären die Gruppengrößen in verschiedenen Räumen manchmal zu groß, sodass die Maximale Anzahl von Kindern pro Betreuer nicht eingehalten werden könnte“, erklärt Schumacher.
Haben Betreuungsstrukturen einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Kinder?
Die Einrichtungen zur Kinderbetreuung werden in Luxemburg als non-formale Bildungsinstitutionen gesehen. Demnach soll laut Bildungsbericht 2021 neben einer sozialen auch eine kognitive Entwicklung in den Fokus gerückt werden. Tatsächlich können Betreuungsstrukturen, laut Audrey Bousselin, einen positiven Effekt auf die kognitiven Fähigkeiten der Kinder haben, wie zum Beispiel Mathematik- und Sprachkenntnisse und ein gutes Gedächtnis. „Die Resultate der europäischen Studien fallen jedoch sehr unterschiedlich aus: Einige zeigen positive Effekte, andere beobachteten keine und wiederum andere beobachteten negative Effekte. Oft wurde beobachtet, dass die positiven Effekte stärker sind, je schlechter die Familienverhältnisse. Man muss immer im Hinterkopf behalten, was die Alternative zur Betreuungsstruktur wäre: wären die Kinder sonst zuhause, wo sie sehr gut umsorgt sind und gefördert werden, oder eher alleine, ohne Zuneigung und ohne pädagogische Förderung?“
Es gibt einige Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt in Betreuungsstrukturen und Verhaltensauffälligkeiten und erhöhtem Stress der Kinder beobachtet haben. Was ist da dran?
Eine Metastudie, die die Resultate verschiedener Studien analysiert hat, hat festgestellt, dass die Kinder mehr Stresshormone ausschütten, wenn sie in einer Tagesstätte sind, als wenn sie zu Hause betreut werden. Jedoch hänge dieser Effekt laut Autoren stark mit der Qualität der Betreuungsstruktur und dem Alter der Kinder zusammen: Je schlechter die Interaktionen mit den Betreuern und je jünger die Kinder, desto höher war das Stresslevel. Eine weitreichende amerikanische Studie fand zudem Verhaltensauffälligkeiten wie schlechtere soziale Fähigkeiten oder häufigere Konflikte mit dem Lehrpersonal je mehr Zeit die Kinder in einer Betreuungsstruktur verbachten. Auch hier waren die Effekte stärker, wenn die Kinder in den ersten 4,5 Jahren ihres Lebens in einer Tagesstätte betreut wurden. In der Studie von Schumacher haben die Lehrer geäußert, dass sie Konzentrationsschwierigkeiten bei den Kindern festgestellt haben: Sie hätten Schwierigkeiten länger bei einer Sache zu bleiben.
Wie sehen die Expertinnen diese Kritik?
„Ja, eine lange Verweildauer kann für viele Kinder durchaus Stress bedeuten“, sagt Hekel dazu. „Trotzdem würde ich da nicht direkt von Kausalität sprechen: Die Auffälligkeiten müssen nicht unbedingt eine direkte Konsequenz sein von der langen Zeit, die Kinder in der Tagesstätte sind. Zudem ist es oft sehr problematisch, Luxemburg mit Studien aus anderen Ländern direkt zu vergleichen, da jedes Land seine eigenen Strukturen und Regeln hat. Trotzdem sollte man die Situationen, die Stress für die Kinder bedeuten, identifizieren und ihnen entgegenwirken“, meint Hekel.
„Man muss hinzufügen, dass diese negativen Auswirkungen eher während eines kurzen Zeitraumes beobachtet wurden. Auf längere Sicht und spätestens, wenn die Kinder aus dem Grundschulalter heraus sind, tendieren diese Effekte dazu, zu verschwinden“, äußert sich Audrey Bousselin dazu.
Wie wird die Qualität von Betreuungsstrukturen in Luxemburg garantiert?
In Luxemburg sind die Qualitätskriterien gesetzlich (nach dem Règlement grand-ducal du 20 juillet 2005 concernant l'agrément à accorder aux gestionnaires de maison relais pour enfants) reguliert und werden auch von externen Sachverständigen kontrolliert. Zum Beispiel gibt es räumliche Standards, eine definierte maximale Anzahl an betreuten Kindern pro Betreuer oder Tageseltern, sowie Nachweispflicht über eine fachliche Qualifikation. Darüber hinaus gibt der nationale Bildungsrahmenplan die pädagogischen Lernziele vor, woran die Institutionen sich halten müssen.
Die Expertinnen Bousselin und Hekel sind sich jedoch einig, dass eine einheitliche Evaluierungsmethode und festgelegte Parameter zur Garantie des Wohlbefindens der Kinder noch etabliert werden müssen: „Was in Luxemburg, und auch in anderen Ländern noch fehlt, sind Qualitätsindikatoren für die Kinderbetreuung. Diese sind wichtig, um die Auswirkungen der Kinderbetreuung auf das Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder zu überwachen und zu bewerten. Zum Beispiel, wie genau man die Qualität der Interaktionen zwischen den Kindern und dem Personal sowie innerhalb von Kindergruppen misst“, so Bousselin.
Was bringt gratis Kinderbetreuung in Luxemburg? Welchen Einfluss hat dies auf die Gesellschaft?
Es gibt zurzeit wenige Studien, die sich angeschaut haben, welchen Einfluss eine kostenlose Kinderbetreuung auf die Gesellschaft hat. Diese finden zum Teil auch noch sehr unterschiedliche Resultate:
Eine englische Studie hat gezeigt, dass Mütter bei einer ganztägig kostenlosen Betreuungsangebot mehr arbeiten gehen. Eine deutsche Studie wiederum, dass Mütter dadurch kaum mehr arbeiten, sondern eher weniger, indem Eltern sich mit dem gesparten Geld mehr Zeit mit den Kindern zuhause gönnen. In letzteren wurde auch festgestellt, dass nur Kinder im Vorschulalter (0-3 Jahre) öfter eine Kita besuchen, wenn das Angebot kostenlos ist, bei den anderen blieb die Inanspruchnahme gleich. Die Studie fand auch, dass ärmere Haushalte deutlich mehr auf ein kostenloses Tagesbetreuungsprogramm reagieren als Familien mit Durchschnittseinkommen.
„Langzeitstudien aus den USA haben die Auswirkungen untersucht, die eine Kinderbetreuung auf die Entwicklung von Kindern aus problematischen Familienverhältnissen hat. Diese zeigen langzeitig positive Effekt, durchaus bis ins Erwachsenenalter: bessere schulische Leistungen, weniger Risikoverhalten, weniger Drogenmissbrauch, geringere Arbeitslosenrate sind einige Resultate. Diese Resultate sind jedoch nur auf diese bestimmte Gruppe von vulnerablen Kindern anzuwenden. Um herauszufinden, was gratis Kinderbetreuung der Gesellschaft in Luxemburg bringt, sollten wir auch hier in Luxemburg Langzeitstudien machen“, antwortet Audrey Bousselin.
Wie sehen die Expertinnen das kostenlose Angebot der Maisons Relais?
„Ich bewerte diese Maßnahme an und für sich zuerst einmal weder als positiv noch negativ. Klar kann ich verstehen, dass man sich Gedanken macht wie: Werden die Kinder dann nur noch da abgestellt? Geht das Pädagogische bei zu vielen Kindern unter? Diese Fragen müssen wir uns auch stellen und diesen Prozess beobachten. Ich sehe in Maisons Relais und anderen Betreuungsstrukturen durchaus viele Vorteile: mit der Kostenlosigkeit stehen die Angebote der vor- und außerschulischen non-formalen Bildung jetzt jeder Familie zur Verfügung, und nicht nur denen, die es sich leisten können“, so Nicole Hekel.
„Ich sehe hier vor allem für Kinder aus schwachen Familienverhältnissen eine Chance. Man hat beobachtet, dass Kinderbetreuung die Differenzen zwischen den Kindern zum Zeitpunkt der Einschulung mindert, und danach auch noch. Es gibt nämlich sehr große Ungleichheiten zwischen den Kindern, wenn sie in die Schule kommen, welche einige Kinder von Anfang an benachteiligten, können. Betreuungsstrukturen könnten diese reduzieren. Zumal wenn jetzt mehr einkommensschwache Familien davon profitieren“, so Audrey Bousselin
Autorin: Lucie Zeches (FNR)
Editoren: Jean-Paul Bertemes (FNR), Michèle Weber (FNR)