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Luxemburgs Schulkinder kommen aus vielen Sprach- und Kulturräumen und zeigen bereits in der ersten Klasse sehr unterschiedliche Lernleistungen. Kindertagesstätten, Früherziehung und Vorschule sollen dazu beitragen, Lern- und Sprachentwicklung schon vor Schulstart zu fördern und so mehr Chancengleichheit zu gewährleisten. Ob dies tatsächlich gelingt, haben Forscher des „Luxembourg Centre for Educational Testing“ (LUCET) der Universität Luxemburg untersucht. Wem die frühe Förderung nutzt, warum Luxemburgisch nicht unbedingt im Deutschunterricht hilft und worauf es nun ankommt, erläutern Dr. Caroline Hornung und die Doktorandin Lena Maria Kaufmann, zwei der Autorinnen der Studie.
Frühkindliche Bildungs- und Betreuungsstrukturen wie Kindertagesstätten, Früherziehung und die klassische Vorschule sind laut Ihrer Studie „wichtige Stellschrauben“, um die Lernentwicklung zu fördern - weshalb?
Lena Kaufmann: Wir wissen aus der internationalen Forschungsliteratur, dass man in den ersten Kindheitsjahren noch viel bewegen und Kinder in ihrer Entwicklung unabhängig vom Elternhaus gut fördern kann. Hochqualitative Förderung in frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsstrukturen kann sich positiv auf die sprachliche, geistige und emotionale Entwicklung von Kindern auswirken und langfristig sogar erreichen, dass Kinder mit schwierigen Startbedingungen später seltener auf die schiefe Bahn geraten.
Caroline Hornung: Die Ergebnisse in anderen Ländern variieren jedoch stark nach Bildungssystem, -angeboten und Bevölkerung. Sie sind nicht einfach auf Luxemburg übertragbar, zumal unsere Schülerschaft in Bezug auf Sprache und familiären Hintergrund besonders heterogen ist. Mit unserer Studie „Early childhood education and care in Luxembourg“ haben wir untersucht, ob und inwiefern auch in Luxemburg Crèches, Précoce und Vorschule positive Effekte auf die schulischen Lernleistungen haben, wie sich diese je nach Schülergruppen, Dauer und Intensität der Betreuung unterscheiden, und was die Zusammenhänge dahinter sind.
Diese Studie ist die erste flächendeckende Untersuchung dazu für Luxemburg. Wir konnten erstmals repräsentative quantitative Aussagen für das ganze Land machen. Dazu haben wir Daten von über 45000 Schülern des Zyklus 2.1, also der Sechsjährigen im ersten Grundschuljahr, aus dem nationalen Schulmonitoringprogramm von 2015 bis 2021 sowie Daten aus Fragebögen für Schüler und Eltern ausgewertet.
Was ist Ihre wichtigste Schlussfolgerung?
Caroline Hornung: Wir haben festgestellt, dass die Teilnahme an FBBE generell hoch ist und der Besuch von Kindertagesstätten und Früherziehung in Luxemburg mit geringen bis moderaten höheren Schulleistungen in den drei Lernbereichen Hörverstehen auf Luxemburgisch, frühe Lesekompetenz und Mathematik einhergeht. Bei Kindern in Kindertagesstätten, in denen Luxemburgisch gesprochen wird, ist der Effekt auf das Luxemburgisch-Hörverstehen naturgemäß besonders positiv. Die Kinder kommen dank dieser Angebote früh mit Luxemburgisch in Kontakt und entwickeln dadurch ein besseres Hörverstehen für die Landessprache, die auch erste Unterrichtssprache in der Vorschule ist. Das Verständnis der Unterrichtssprachen wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für das schulische Lernen im Allgemeinen und das Erlernen der Schriftsprache im Besonderen.
Welche Kinder profitieren denn am meisten?
Lena Kaufmann: Benachteiligte Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status und einer anderen Familiensprache als der Schulsprache – vor allem sprachlich. Ähnliche Resultate finden wir weltweit. In Luxemburg war in allen Lernbereichen eine bessere Leistung zu beobachten, wenn die Kinder die Kindertagesstätte und auch die Früherziehung besucht hatten.
Die Besuchsintensität hat unterschiedliche Auswirkungen auf portugiesischsprachige und luxemburgische Kinder - nur portugiesischsprachige Kinder scheinen sprachlich von mehr Stunden in der Crèche zu profitieren. Luxemburgischsprachige Kinder verbringen weniger Zeit in FBBE und haben schon Daheim ein Umfeld, das ihre Luxemburgisch-Sprachentwicklung fördert.
Was hat Sie bei Ihrer Untersuchung einerseits beeindruckt und andererseitsüberrascht?
Caroline Hornung: Schon die Zahlen waren beeindruckend. Mehr als die Hälfte der Kinder des Zyklus 2.1 hatten eine Kindertagesstätte und die Früherziehung besucht, fast ein Drittel nur eine Kindertagesstätte und 17 Prozent nur die Früherziehung. 76 Prozent der Kinder verbrachten 10 bis 40 Stunden pro Woche in Crèches oder Früherziehung. Dort war Luxemburgisch nach Angaben der Eltern die vorherrschende Sprache.
Spannend war, dass der Transfer von luxemburgischen zu deutschen Sprachkenntnissen nicht automatisch erfolgt. Wir hatten schon vermutet, dass dieser bisher angenommene Transfer für viele Kinder nicht realistisch ist, konnten das aber erstmals mit Daten unterlegen. Bisher dachte man immer, die Kinder würden über das Luxemburgische auch fit für die deutsche Alphabetisierung im Zyklus 2.1, also in der Primärschule, gemacht.
Das Ausländerkind, das in der Crèche Luxemburgisch lernt, hat es also nicht automatisch im Deutschunterricht leichter. Wie haben Sie das festgestellt?
Caroline Hornung: Die Schulmonitoringprogramme messen seit zehn Jahren das Luxemburgisch-Hörverstehen im ersten Schuljahr. Die Annahme war: Je besser ein Kind Luxemburgisch kann, desto besser kann es auch Deutsch. Doch das Monitoring zeigte, dass viele Kinder auch im dritten Schuljahr noch nicht das erforderliche Niveau im Deutsch-Leseverstehen erreichen. Von den portugiesischsprechenden Kindern bleiben beispielsweise 70 Prozent im Deutsch-Leseverstehen zurück, trotz ihrer Luxemburgisch-Kenntnisse.
Das Bildungsministerium hat sich gemeinsam mit uns daran gemacht, dies zu erklären. Wir haben einen Test entwickelt, um neben dem Luxemburgischen auch das Deutsch-Hörverständnis in der ersten Klasse zu messen. Da Deutsch nicht auf dem Lehrplan der Vorschule steht, haben wir diesen Test bewusst leichter gestaltet. Dennoch schnitten Portugiesisch- oder Französischsprachige Kinder besser im Luxemburgisch- als im Deutschtest ab. Der Vorsprung der luxemburgischsprachigen zu anderen Kindern war im Deutschen größer als im Luxemburgischen. Eine automatische Übertragung von Luxemburgisch- in Deutschkenntnisse findet demnach nicht statt. Luxemburgische Kinder dagegen kommen vermutlich über Fernsehen und Bücher deutlich mehr mit der deutschen Sprache in Kontakt und meistern diese so besser – dies müsste weiter untersucht werden.
Wie können nicht-luxemburgischsprachige Kinder besser auf die deutsche Alphabetisierung vorbereitet werden – und was folgt daraus für die Sprachpolitik?
Caroline Hornung: Was fehlt, ist der kontinuierliche Kontakt zur Alphabetisierungssprache Deutsch. Im Zyklus 1, also in der Vorschule, ist Deutsch keine Unterrichtssprache. Man fördert also früh Luxemburgisch und Französisch und lehrt später Lesen und Schreiben auf Deutsch. Solche Brüche sollte die Sprachpolitik vermeiden. Die spätere Alphabetisierungssprache sollte schon bei Vier- bis Fünfjährigen gefördert werden.
Die Politik ist sich dieses Problems bewusst. Zurzeit läuft in vier Schulen ein Pilotprojekt mit französischer Alphabetisierung. Dort haben die Eltern im zweiten Jahr der Vorschule die Wahl, ob ihr Kind in der Primärschule auf Französisch oder Deutsch Lesen und Schreiben lernen soll. Ihr Kind wird dann bereits im zweiten Vorschuljahr in dieser Sprache gefördert.
Dieses Pilotprojekt ist eine einzigartige Chance. Ob über Lieder oder Geschichten – das Verständnis der Kinder für die spätere Alphabetisierungssprache schon im ganzen Vorschulzyklus ausdrücklich zu fördern, wäre sinnvoll. Im Sommer werden wir erste Resultate des Pilotprojektes vorstellen. Sollten die Ergebnisse vielversprechend sein, so wäre das eine Möglichkeit, mehr Chancengleichheit in unser Schulsystem zu bringen. Das Bildungsministerium ist offen dafür und bereit, etwas zu ändern – das begrüßen wir Wissenschaftler sehr.
Bis Eltern überall im Land die Alphabetisierungssprache in der traditionellen Primärschule wählen können, bleibt Deutsch für viele Kinder eine große Hürde?
Caroline Hornung: Ja, weil die Sprachanforderungen wegen dieser Brüche in Luxemburg noch anspruchsvoller als in anderen Ländern sind und 67 Prozent der Primärschulkinder zuhause nicht Luxemburgisch oder Deutsch sprechen. Und obwohl viele Kinder Deutsch nach der ersten und zweiten Klasse noch nicht stabil beherrschen, kommt dann in der dritten Klasse schon Französisch als Schriftsprache hinzu. Das ist eine enorme Herausforderung für die Schüler. Dabei ist es in allen Fächern wichtig, die Unterrichtssprache gut zu beherrschen.
Welche Rolle spielt das Elternhaus überhaupt beim Spracherwerb?
Lena Kaufmann: Familien haben einen sehr großen Einfluss auf den Spracherwerb. Kinder sollten eine stabile Familienerstsprache mit einem reichen Vokabular entwickeln. Dann sollte so früh wie möglich die spätere Alphabetisierungssprache gefördert werden, ob in Betreuungseinrichtungen oder zuhause. Und natürlich braucht es auch Zeit, bis eine Sprache sich verankert, zumal in mehrsprachigen Familien.
Abbildung: Einflussfaktoren auf das Luxemburgisch-Hörverstehen (in Grün: positive Assoziierungen, in Rot: negative Assoziierungen, in Grau: Parameter außerhalb des Einflusses der Schulpolitik. Quelle: Hornung, C., Kaufmann, L. M., Ottenbacher, M., Weth, C., Wollschläger, R., Ugen, S. & Fischbach, A. (2023). Early childhood education and care in Luxembourg. Attendance and associations with early learning performance. Luxembourg Centre for Educational Testing (LUCET). doi: 10.48746/epstanalpha2023pr)
Caroline Hornung: Die wissenschaftliche Literatur ist sich einig, dass eine reiche Erstsprache entscheidend ist für das Lernen weiterer Sprachen. Doch internationale Studien zufolge haben Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien häufig einen geringeren Wortschatz und es wird generell weniger mit ihnen gesprochen. Das hat nicht unbedingt mit dem Einkommen der Eltern zu tun sondern mit Zeitmangel, Stress und dem Umgang mit dem Kind. Mit den Kleinen über ihren Tag zu sprechen und nicht nur Anweisungen zu geben, täglich eine Geschichte vorzulesen, hat einen großen Effekt. Vielen Eltern ist das nicht bewusst.
Auch eine Klassenwiederholung in der Vorschule wirkt sich laut Ihrer Studie auf Kinder mit Sprach- und Rechenschwächen nicht positiv aus – warum das?
Lena Kaufmann: Unseren Daten zufolge hatten Klassenwiederholer in den Jahren danach oft schlechtere Schulleistungen als andere Kinder. Das müssen aber nicht Ursache und Wirkung sein, die Lernschwierigkeiten können schon vorher bestanden haben. Die Beobachtung bestätigt aber die internationale Studienlage, laut der es bessere Methoden zur Förderung schwacher Schüler gibt als Klassenwiederholungen, wie zum Beispiel gezielte Fördermaßnahmen in genau den Bereichen, in denen die Schüler Nachholbedarf haben.
Die positive Wirkung von FBBE auf spätere Schulleistungen ist Ihrem Bericht zufolge letztlich nur gering bis moderat. Bieten FBBE überhaupt einen weiteren pädagogischen Mehrwert, abgesehen von der Betreuung? Oder sollten Kleinkinder mehr Zeit zuhause verbringen?
Lena Kaufmann: Bindungsfragen und die Gründe, warum Eltern Kinder außer Haus betreuen lassen, haben wir nicht untersucht. Aus der Literatur ist aber bekannt, dass von hochqualitativer Außerhausbetreuung auch im frühen Kindesalter langfristig positive Effekte zu erwarten sind. Der Kontakt und das Sprechen mit gleichaltrigen Kindern, gut ausgebildetes, sensibles Personal, das gemeinsame Spielen und das Angebot an Spielmaterial sind durchaus ein Mehrwert.
Dabei kommt es auf den Umfang und die Qualität der Betreuung sowie auf die Beziehung zu den Betreuern an. Eine mittlere Betreuungszeit von 20 bis 30 Stunden pro Woche könnte am ehesten positive Effekte haben. Qualitativ hochwertig ist die Betreuung, wenn das Personal gut ausgebildet ist, genügend Zeit für jedes einzelne Kind hat, Blickkontakt hält und warm mit ihm umgeht, auf seine Bedürfnisse eingeht und es anfangs auch – sofern möglich – in seiner Erstsprache anspricht, wenn es noch kein Luxemburgisch versteht.
Das alles ist natürlich auch eine Frage der Arbeitsbedingungen und des Betreuungsschlüssels. Im internationalen Vergleich investiert Luxemburg sehr viel in frühkindliche Förderung. Doch es gibt große Unterschiede zwischen den Einrichtungen und wir wissen nicht genau, wie und in welchem Maß dort Sprachen gefördert werden. Es wäre ein spannendes Folgeprojekt, die Qualität der Crèches in Luxemburg in einer Studie systematisch zu untersuchen.
Autorin: Britta Schlüter
Redaktion: Michèle Weber, Jean-Paul Bertemes (FNR)