University of Luxembourg
Falschinformationen ziehen sich durch die ganze Menschheitsgeschichte. Doch im digitalen Zeitalter sind „Fake News“ omnipräsent und immer schwerer als solche zu erkennen. Prof. Dr. Andreas Fickers, Direktor des „Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History“ (C2DH) der Universität Luxemburg, über die Geschichte der Falschmeldung von der Propaganda bis zum „Deep fake“, und weshalb Fake News eine echte Herausforderung für Demokratie und Wissenschaft sind.
Herr Prof. Fickers, wie groß ist aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass gezielte Falschinformationen das Resultat der US-Wahlen am 5. November stark beeinflussen?
Da gehen die Meinungen in der Wissenschaft weit auseinander. Manche behaupten, gezielte Falschinformationen hätten einen dezidierten Einfluss auf Wahlen. Andere sind skeptisch. Denn Wirkung und Einfluss von Fake News auf den Ausgang von Wahlen wie auch Effekte von Fake News auf das Verhalten von Menschen generell sind bislang kaum analysiert und empirisch nachgewiesen worden. Natürlich bezweifelt niemand die Existenz gezielter Falschinformation. Doch besonders die Medien behaupten gern, Fake News ausgesetzt zu sein bedeute automatisch, davon beeinflusst zu werden. In einem kürzlich in der Fachzeitschrift Nature erschienenen Artikel zeigen fünf renommierte Forscherinnen und Forscher, dass diese behaupteten Kausalbeziehungen so nicht nachgewiesen werden können. Stattdessen stellen die Wissenschaftler fest: Das Publikum, das Falschmeldungen aufgreift und weiterleitet, ist recht überschaubar. Weltweit gesehen und gemessen an der allgemeinen Mediennutzung ist nur eine relative begrenzte Gruppe von Menschen interessiert an und anfällig für Falschmeldungen. Diese Erkenntnis relativiert den Hype um Fake News. Insofern bin ich persönlich sehr vorsichtig, wenn es um Wahlvorhersagen geht.
Wieso wurden Effekte von Fake News, obwohl ständig öffentlich diskutiert, bisher kaum erforscht?
Unter anderem deshalb, weil Forscher kaum Zugang zu den Daten erhalten. Fake News werden ja heute vor allem über die sozialen Medien gestreut. Doch die Großen der sozialen Plattformen wie Facebook, TikTok oder „X“ geben der Wissenschaft keinen Zugang zu ihren Daten. Genau den fordern die Autoren des „Nature“-Artikels. Wir brauchen hier mehr Transparenz, um den Unterschied zwischen „Exposure“, „Engagement“ und „Impact“ zu untersuchen.
Fake News gibt es aber nicht erst seit dem digitalen Zeitalter, oder?
Seitdem es Nachrichten gibt, gibt es Falschmeldungen. Schon die berühmte Meldung vom Marathon des Sieges der Athener war eine Falschmeldung. Der Läufer von Marathon nach Athen, der die Nachricht überbrachte und dann tot zusammenbrach, ist nachweisbar (?) eine Erfindung. Der Begriff des „Humbugs“ oder „Hoax“ taucht erstmals im 18. Jahrhundert in der englischen Presse auf. Mit dem Aufkommen der Telegrafie und der Massenpresse im 19. Jahrhundert werden Kurzmeldungen zu einem wichtigen Bestandteil des Nachrichtengeschäfts. Zentrale Akteure sind die Nachrichtenagenturen wie Reuters oder AP. Der Telegrammstil wird Kennzeichen einer sich ständig beschleunigenden Produktion und Zirkulation von Nachrichten, und so steigt auch die Zahl der Falschmeldungen exponentiell. In den 1880er-Jahren diskutieren Journalisten in den USA erstmals über „Fake News“ und den Unterschied zwischen Fake, Lüge und Propaganda. Man will objektiv berichten, doch Nachrichten sind auch ein Business, und Journalisten bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Fakt und Fiktion. Fakes wurden damals eher als kreative Interpretation von Fakten betrachtet, die es so hätte geben können und die man aus kommerziellen Gründen attraktiver machte.
Und wie definiert die Wissenschaft „Fake News“ heute?
Heute unterscheidet die Forschung drei Kategorien: Misinformation, Disinformation und Malinformation. Ersteres sind Falschmeldungen, die durch Irrtum oder technische Pannen entsthen, also ohne Absicht. In der Telegraphie, sozusagen den SMS des 19. Jahrhunderts, führten Übertragungsprobleme ständig zu Misinformationen. Dagegen ist mit Disinformation die Produktion von Falschnachrichten mit Täuschungsabsicht gemeint. Der Begriff Malinformation steigert dies noch einmal und beschreibt Falschnachrichten, die bewusst schaden sollen. Fake News fallen in die zweite und dritte Kategorie. Sie gehören in den Bereich der Propaganda und werden vor allem genutzt, um politische Gegner zu diskreditieren.
Legendäre Fake News und ihre Folgen: Zwei Beispiele
Eine der berühmtesten Falschmeldungen ist die „Tartarenmeldung“ aus dem Krimkrieg (1853 bis 1856). Damals berichtete William Howard Russell, britischer Journalist der London Times, dass ein tartarischer Kurier ihn über die Eroberung Sewastopols durch die Russen informiert habe. Dies war eine komplett erfundene Meldung, die jedoch von Medien weltweit ungeprüft übernommen wurde. Der Begriff „Tartarenmeldung“ gilt noch heute als Synonym für „Zeitungsente“ oder „Hoax“.
Auch Adolf Hitler bediente sich einer gezielten Falschmeldung, als er am 1. September 1939 in seiner Rede vor dem Deutschen Reichstag behauptete, Polen habe einen Radiosender in Schlesien angegriffen, und „seit 5.45 wird zurückgeschossen“. Hierbei handelte es sich um eine fingierte Aktion und gezielte Lüge, die den brutalen Überfall der Deutschen auf Polen und damit den Beginn des Zweiten Weltkriegs legitimieren sollte. „Beide Beispiele zeigen: Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit“, so Prof. Fickers.
Was unterscheidet heutige Fake News von Falschinformationen früher - was macht ihre besondere Gefahr im digitalen Zeitalter aus?
Wir erleben derzeit den Übergang von Fake News und reinen Textnachrichten zu Deep Fakes – audiovisuelle Fake News, erzeugt durch künstliche Intelligenz (KI). Deep Fakes sind eine neue Klasse von Falschinformationen. Die gute Nachricht ist, dass Menschen Fake News aus Audio- oder Bildinformationen leichter enttarnen als reinen Text. Neu ist aber die räumliche und zeitliche Dynamik. Noch nie wurden Nachrichten in so hoher Frequenz produziert und zirkuliert. Eine Nachricht erreicht heute Massen an Menschen rund um den Globus, und das quasi in Echtzeit. Damit beschleunigt sich die Dynamik der Nachrichten weiter. Im Unterschied zu früher können wir News zudem heute überall und rund um die Uhr auf dem Mobiltelefon abrufen. Früher schaute man abends die Fernsehnachrichten, las morgens beim Kaffee die Zeitung und hörte auf dem Weg zur Arbeit die Nachrichten im Radio. Heute sind wir ständig vernetzt und die Nachrichten fließen konstant.
Diese hochfrequente Nachrichtenproduktion, gepaart mit hochfrequentem Newskonsum, überfordert uns und verändert die Ökonomie der Aufmerksamkeit. Es ist fast unmöglich, als einzelner Konsument in der Informationsflut noch eine Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. So verbreiten sich Fake News unkritisch binnen Sekunden weiter, beschleunigt von Algorithmen. Und um in der Überfülle der konkurrierenden News überhaupt noch Aufmerksamkeit zu erregen, werden News immer extremer. Der amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump setzt dies gezielt ein, denn er weiß: Spräche er normal, würde ihm niemand zuhören. Also nutzt er extreme Botschaften. Denn Aufmerksamkeit ist die Währung dieser Ökonomie.
Wie kann die Forschung dazu beitragen, Fake News zu entlarven und Menschen zu helfen, sie zu erkennen?
Als Forscher sollten wir uns in der Tat mehr auf die Empfänger oder Rezipienten konzentrieren, statt nur auf die Produzenten von Fake News. Wir stehlen uns zu leichtfertig aus der Debatte heraus, doch wir sollten uns als Nachrichtenkonsumenten fragen, ob wir kritisch genug hinsehen und -hören. Ein berühmtes Beispiel ist die Sendung „Bye bye Belgium“, eine fiktive Live-Reportage des belgischen Fernsehsenders RTBF im Jahr 2006. Der gewohnte Nachrichtensprecher berichtete im Format der üblichen Abendnachrichten über die angebliche Loslösung Flanderns und den Zerfall Belgiens, und der Ministerpräsident gab ein Interview dazu. Trotz des groß eingeblendeten Hinweises auf die Fiktion nahm die Mehrzahl der Zuschauer den Fake für bare Münze. Warum? Weil sie den narrativen Konventionen, mit denen der Fake produziert wurde, vertrauten: dem Format und den Personen.
Bei Fake News zählt also nicht nur, was wahr oder falsch ist. Sondern auch, wie Wahrheit medial inszeniert wird. Unsere Wahrnehmung wird von narrativen Konventionen und Formaten geprägt. Wir haben bestimmte Formate verinnerlicht, und wenn eine News auf eine bestimmte Art präsentiert wird, glauben wir sie leichter - so werden Realitätseffekte erzielt. Diese Mechanismen und Effekte zu untersuchen, ist ein wichtiger Forschungsauftrag.
Gibt es aus historischer Sicht weitere Bedingungen, die Fake News fördern?
Da zitiere ich gern den Historiker Marc Bloch(1866-1944): „… der Irrtum verbreitet sich selbst, wächst und überlebt schließlich nur unter einer Bedingung: dass er in der Gesellschaft, in der er sich ausbreitet, einen günstigen kulturellen Nährboden finde“. Bloch untersuchte die Herkunft von Falschmeldungen im Ersten Weltkrieg und stellte fest: Einer der „Herde“ von Falschmeldungen waren die Feldküchen, an denen die schwer traumatisierten Soldaten zusammenkamen. Dorthin kamen auch Journalisten, es wurde erzählt und auch viel übertrieben. Die Blasen der sozialen Medien sind die Feldküchen des digitalen Zeitalters. Dort versammeln sich diejenigen, die ihre falschen Ideen und Verschwörungstheorien verbreiten - gefördert von Algorithmen, die das Nutzungsverhalten analysieren und uns genau das zuschustern, was wir sowieso gern lesen. Denn Menschen suchen Bestätigung, nicht Widerspruch, und Nährboden für Fake News gibt es zur Genüge: politischen Populismus, die Pandemie, den Ukrainekrieg, der Gaza-Krieg…
Welche Lehren zieht die Forschung aus der historischen Analyse von Falschmeldungen?
Die historische Forschung hat sich bisher vor allem mit der Propaganda beschäftigt, der gezielten Manipulation der Bevölkerung durch totalitäre Regimes. Vielen Studien zufolge erzeugt Propaganda mentale Dispositionen, die konkrete politische Folgen hat. So wäre der Holocaust nicht möglich gewesen, wenn nicht zuvor eine Ideologie und ihr Sprachregime bestimmte Gruppen zu Unmenschen gemacht hätten. Erst so wurden Menschen fähig, ungeheuerliche Verbrechen zu begehen. Die historische Lehre lautet: Wehret den Anfängen und schaut auf die Sprache. Denn die Sprache verrät die Ideologie und führt zu einem Mentalitätswandel. Politische Unwahrheiten gab es schon immer, aber noch nie war Fälschen so einfach, und noch nie haben sich Fälschungen so rasant verbreitet. Man darf gewisse Begriffe, die ausgrenzen und entmenschlichen, und Falschbehauptungen nicht tolerieren. Da muss man so schnell wie möglich politisch gegensteuern.
Sind wir in so einem Mentalitätswandel?
Ja, wir sind voll drin. Das Stichwort lautet „Cancel Culture“. Sie ist Ausdruck einer ideologischen Konfrontation, die über Sprache ausgetragen wird. Doch wir müssen den freien kritischen Dialog, einen der Grundpfeiler der Demokratie, verteidigen - gerade auch an unseren Universitäten.
Wagen Sie einen Blick in die Zukunft der Desinformation?
Die generative KI beschäftigt uns Forscher sehr. Die zugrunde liegenden „Large Language Models“ (LLM) sind computerlinguistisch erzeugte Wahrscheinlichkeitsmodelle, also statistisch erzeugte Wort- und Satzbeziehungen, die aus einer Vielzahl von Textdokumenten durch einen rechenintensiven Lernprozess erzeugt werden. Diese Sprachmodelle simulieren sozusagen „sinnvolle“ Texte. Doch es handelt sich um computerlinguistische Sprachmodelle, die nichts mit Sinnbildung, Relevanz oder wissenschaftlicher Evidenz zu tun haben. Als Universität und Lehrinstitution müssen wir uns fragen, wie wir sowohl Studierenden als auch Dozenten die nötige Medienkompetenz und „Digital Literacy“ vermitteln. Am C2DH haben wir dazu https://ranke2.uni.lu/ entwickelt, ein eigenes Portal mit Lehrmodulen zur digitalen Quellenkritik. Wir dürfen als Historiker nicht zu „digitalen Forensikern“ zu werden, wie ich es in einem Aufsatz etwas provokativ beschrieben habe.
Zweitens müssen wir zusammenarbeiten mit Faktenchecker-Netzwerken wie zum Beispiel dem International Fact-Checking Network IFCN oder dem European Factchecking Standards Network. Ein solches „fact checking in real-time“ ist nur im Kollektiv möglich - als einzelner Nutzer oder Forscher ist man damit überfordert. Nicht zuletzt brauchen wir juristische Regulierung. Gesetze wie die „Loi Fake news“ in Frankreich oder der Europäische „AI Act“ sind von zentraler Bedeutung, um die großen Social Media Plattformen zu regulieren. Hauptwerkzeug dabei sind in der Zukunft aber technische Lösungen. Problematisch, aber wahr: Zukünftige Produkte der KI werden hauptsächlich mittels geeigneter KI-Werkzeuge kontrolliert werden.
Interview: Britta Schlüter
Redaktion: Michèle Weber, Jean-Paul Bertemes (FNR)