Adobe Stock, Stefano Zaccaria

Diesen Sonntag waren Parlamentswahlen in Luxemburg. Nachdem die Anzahl der Stimmen pro Partei und Bezirk bekannt waren, wurden nach einem bestimmten mathematischen Prozess die  Parlaments-Sitze pro Partei ermittelt. Dabei kommt es auch zu sogenannten Restsitzen, die mitunter einen großen Impakt auf die Sitzverteilung im Parlament haben können.  

In diesem Artikel erklären wir die Mathematik hinter der Ermittlung der Sitze und Restsitze. Wir basieren uns hierfür auf ein Dokument, das der Mathematiker Jerry Kreins für das „Zentrum fir politesch Bildung“ erstellt hat. Zusätzliche Hilfestellung erhielten wir von den Mathematikern Tom Goedert und Prof. Christophe Ley. Wie wir sehen werden: je nachdem wie die Sitzverteilung berechnet wird, kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen…

Hier der Link zum Dokument vom „Zentrum fir politesch Bildung“: https://zpb.lu/wp-content/uploads/2022/01/TaU-Wahlen-Mathematik.pdf

Was wäre, wenn man die Anzahl an Sitzen einfach nach Prozent der Stimmen national ermitteln würde?

Eine einfache mathematische Variante wäre ja, einfach die Prozentzahlen der Stimmen für jede Partei national in Sitze umzuwandeln. Das würde folgendes Ergebnis liefern:

Anmerkung: Der Prozentsatz der Stimmen, multipliziert mit 60 (Anzahl der Sitze), ergibt die proportionale Sitzverteilung. Bei der proportionalen Sitzverteilung sieht man, dass ca. 1 Prozent der Stimmen reicht, um einen Sitz zu erlangen. Es ergibt sich jedoch ein "mathematisches Problem": Beim Auf- und Abrunden kann es sein, dass man nur 59 Sitze erhält. Den Restsitz erhält dann die Partei, die am nächsten am Aufrunden, also an der ...,5-Hürde ist. In diesem Fall Fokus. Würde man allerdings 61 Sitze erhalten, müsste man die Anzahl der Sitze dieser Partei dann abrunden. (Berechnungen: Tom Goedert).

Wie man sieht, würden somit die Parteien CSV und DP verlieren, die LSAP und déi Lénk gleichbleiben und die kleineren Parteien ADR, Déi Gréng, Piraten, Fokus und Liberté dazugewinnen.

So funktioniert unser Wahlsystem aber nicht. In Wirklichkeit benötigen die Parteien unterschiedliche Prozentsätze für einen Sitz:

Prozent der Stimmen (national) die eine Partei 2023 benötigte für einen Sitz im Parlament. (Berechnungen: Tom Goedert)

Die DP benötigte am wenigsten Prozent der Stimmen national für einen Sitz im Parlament, die Piraten am meisten.

Weshalb denn nicht diese Methode anwenden? Sie hat auch Nachteile. Einer der Nachteile eines solch vereinfachten prozentualen Systems wäre, dass es schwieriger ist Koalitionen zu bilden, wenn so viele kleine Parteien den großen Parteien Sitze „wegnehmen“. Daher gibt es in manchen Ländern Schwellenwerte. Z.B. müssen Parteien, um einen Sitz zu kriegen, mindestens 3% oder 5% der Stimmen erhalten. Ein weiterer Nachteil: ohne die Einteilung in Bezirke ist nicht gewährleistet, dass die Menschen aus allen Regionen ausreichend repräsentiert sind im Parlament.

In Luxemburg wird in 4 Bezirken gewählt, was die Mathematik komplizierter macht. Da in den Bezirken unterschiedlich viele Menschen leben, müssen diese auch gewichtet werden. 10% Stimmen im Norden repräsentieren weniger Menschen als 10% Stimmen im Süden… Es muss ein System her, mit dem die Sitze pro Bezirk verteilt werden können, unter gleichzeitiger proportionaler Gewichtung der Bezirke.

Nach welchem Verfahren werden in Luxemburg die Sitze verteilt?

In Luxemburg werden die 60 Sitze des Parlaments in 4 Bezirke verteilt, die ungefähr nach Sitzen die Anzahl der Menschen in diesem Bezirk wiederspiegeln: 23 Sitze für den bevölkerungsreichsten Bezirk Süden, 21 für den Bezirk Zentrum, 9 für den Norden und 7 für den Osten. Das luxemburgische Wahlsystem definiert, wie die Stimmen in Sitze umgerechnet werden, und ist im Wahlgesetz genau beschrieben.

Die Verteilung der Sitze erfolgt nach dem sogenannten d’Hondt-Verfahren, benannt nach dem belgischen Juristen Victor d’Hondt. Es handelt sich hierbei um ein „Höchstzahlverfahren“, oder „Divisor-Verfahren mit Abrundung“. Das „Zentrum fir politesch Bildung“ schreibt hierzu: „Es ist einfach anzuwenden und ermöglicht eine proportionale Repräsentation. Dabei wird versucht, die Sitzverteilung möglichst nah am Wahlergebnis zu halten. Das Verfahren wird sonst noch in Europa bei den Nationalwahlen z.B. in Bulgarien, Dänemark, Finnland, Island, Kroatien, der Schweiz, den Niederlanden und Portugal eingesetzt.“

Die Anzahl der Sitze pro Bezirk spiegelt jedoch nicht die Anzahl der Wähler in den jeweiligen Regionen wieder (Berechnungen von Prof. Christophe Ley von der Universität Luxemburg):

(Berechnungen: Prof. Christophe Ley) Wie man erkennen kann, ist das Zentrum überrepräsentiert, wenn man die Anzahl der Wähler in den jeweiligen Bezirken betrachtet. Das mag erstaunen, weil dort doch so viele Menschen leben. Eine Erklärung liegt womöglich darin, dass dort viele Ausländer leben, die nicht wahlberechtigt sind. Andererseits: Das Parlament vertritt alle Bürger, nicht nur die Wähler. Wenn man sich die Bevölkerung je nach Bezirk anschaut, ist es dann wiederum eher so, dass das Zentrum leicht unterrepräsentiert ist. 

Wie funktioniert das mathematische Verfahren um die Restsitze zu ermitteln?

Das folgende Verfahren wird für jeden Bezirk einzeln berechnet.

 1.Schritt: Zuerst wird die sogenannte Wahlzahl ermittelt.

Sie ergibt sich aus der Gesamtzahl der gültigen Stimmen des Bezirks, geteilt durch die Anzahl der Sitze des Bezirks erhöht um einen Sitz.

Wahlzahl = Gesamtstimmen/(Sitze +1)  

Wichtig: die Wahlzahl wird immer aufgerundet (die Zahl hat also keine Stellen mehr hinter dem Komma). Also im Falle des Bezirks Süden: Gesamtzahl aller Stimmen geteilt durch 23+1=24, dann aufgerundet. Im Falle des Nordens: Gesamtzahl der Stimmen geteilt durch 9+1=10, dann aufgerundet.

Infobox

Ausnahme: Wenn die Wahlzahl eine ganze Zahl ist, zählt man 1 hinzu.... Weshalb?

Achtung: Wenn die Wahlzahl (also das Resultat aus der Rechnung Gesamtstimmen/(Sitze + 1)) eine ganze Zahl ist, zählt man 1 dazu, um die Wahlzahl zu ermitteln. => Wahlzahl = Gesamtstimmen/(Sitze + 1) + 1

Jerry Kreins erläutert anhand eines Beispiels weshalb das so sein muss:
Nehmen wir als Beispiel 4 Parteien die im Norden kandidieren.

Partei A:1000 Stimmen
Partei B: 2000 Stimmen
Partei C: 3000 Stimmen
Partei D: 4000 Stimmen
Total: 10.000 Stimmen

Wenn man die Wahlzahl falsch (ohne + 1) berechnet, lautet die Rechnung: 10.000/(9+1) = 1000 

In dem Fall erhält Partei A 1 Sitz, Partei B 2 Sitze, Partei C 3 Sitze, Partei D 4 Sitze; also insgesamt 10 Sitze. Und das geht nicht. 

Wenn man nun korrekterweise die Wahlzahl 1001 wählt, wird die Sitzaufteilung im ersten Verfahren nun folgende: 

Partei A 0 Sitze, Partei B 1 Sitz, Partei C 2 Sitze, Partei D 3 Sitze (insgesamt 6 Sitze). Bei der anschliessenden Ermittlung der Restsitze geht danach jeweils ein Restsitz an Partei B, C und D. Das Endergebnis lautet also: Partei A 0 Sitze, Partei B 2 Sitze, Partei C 3 Sitze, Partei D 4 Sitze.

 

Auszug aus dem Wahlgesetz zur Wahlzahl, Art. 159.

Art. 159.

Le nombre total des suffrages valables des liestes est divisé par le nombre des députés à élire augmenté de un. 

On appelle "nombre électoral" le nombre entier qui est immédiatement supérieur au quotient ainsi obtenu. 

Chaque liste reçoit à la répartition autant de sièges que le nombre électoral est contenu de fois dans le nombre de qu'elle a recueillies. 

 2. Schritt: In einem nächsten Schritt werden erstmals Sitze verteilt. Hierfür wird die Zahl der Parteistimmen durch die Wahlzahl geteilt.

Das Resultat hier ergibt eine Zahl, die abgerundet wird. Sie entspricht den Sitzen die die Partei schon mal sicher hat. Zählt man diese Zahl aller Partei zusammen, kann es sein, dass Sitze fehlen. Hier ein fiktives Beispiel für den Wahlbezirk Süden:

(Berechnungen des fiktiven Beispiels: Jean-Paul Bertemes)

Wie man in unserem Beispiel sieht: Die Wahlzahl beträgt aufgerundet 9834. Nach Anwendung des Verfahrens kommen die Parteien zusammen nur auf 21 Sitze. Es fehlen also noch 2 Sitze. Diese werden Restsitze genannt.

 3. Schritt: Die Restsitze werden ermittelt. Hierzu wird die Anzahl der Parteistimmen geteilt durch die Anzahl der bereits erhaltenen Sitze erhöht um 1. Die Partei die hier das höchste Resultat erzielt, kriegt den ersten Restsitz.

In unserem Beispiel erhält Partei C den ersten Restsitz:

Nun sind also insgesamt 22 Sitze verteilt. Um den letzten Restsitz zu ermitteln wird dasselbe Verfahren nochmal angewendet

Der letzte Restsitz geht nun an Partei A.

Wie eng es werden kann, zeigt das Beispiel des Wahlausgangs im Bezirk Norden. Hier waren 3 Restsitze zu vergeben. Wie man sieht gab es beim dritten Restsitz nur eine Differenz von 263 Stimmen zugunsten der Piraten gegenüber der LSAP. 

Ist das System fair?

Das „Zentrum fir politisch Bildung“ merkt hierzu an: „Das aktuelle Wahlsystem wird kritisiert, weil es große Parteien bevorteilt. Restsitze gehen selten an kleinere Parteien.“ In der diesjährigen Wahlkampagne haben tatsächlich die kleinen Parteien verloren (im Vergleich zu prozentualer Sitzverteilung), aber auch die LSAP, die prozentual die zweitmeisten Stimmen hatte, jedoch 3 Sitze weniger als die DP.

Jedes System hat wohl Vor- und Nachteile. Beim US-amerikanischen System z.B., das pro Bundesstaat nach dem Prinzip „the winner takes it all“ funktioniert, kann es auch vorkommen, dass die Prozentzahlen nicht mit den Sitzen übereinstimmen. Außerdem werden mit diesem System die großen Parteien wohl noch stärker bevorzugt (2 große Parteien in den USA). Und wie gesagt gibt es ja in anderen Ländern Schwellenwerte, die erreicht werden müssen, was auch wiederum für kleinere Parteien Schwierigkeiten bereitet.

Wir haben noch ein paar weitere Modelle berechnet und gegenüber gestellt. Einerseits wie bereits erwähnt die reale Sitzverteilung und die proportionale Sitzverteilung. Zusätzlich haben wir die Sitzverteilung errechnet nach dem d'Hondt-Verfahren, aber mit einmal einer Hürde von 3% (also Parteien müssen mindestens 3% der Stimmen haben, um einen Sitz erhalten zu können) und einmal mit einer Hürde von 5%:

(Berechnungen: Tom Goedert)

Wie man sieht: je nach Methode, erhalten immer wieder andere Parteien mehr oder weniger Stimmen. 

Habt ihr Vorschläge für ein anderes Wahlsystem? Dann schreibt es uns in die Kommentare auf der science.lu facebook- oder Instagram-Seite.

Mehr Infos zum Wahlvorgang in Luxemburg in diesem Dokument vom „Zentrum fir politesch Bildung“: https://zpb.lu/wp-content/uploads/2018/10/Das-Wahlergebnis-16.10.2018.pdf

 

Autor: Jean-Paul Bertemes (FNR)

Bezug auf Dokumente vom "Zentrum fir politesch Bildung" und Jerry Kreins sowie Berechnungen von Tom Goedert, Prof. Christophe Ley und Jean-Paul Bertemes

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