BnL/Brainplug

Auch für die Forschung ist das Dokument spannend, da es bisher stets in Privatbesitz war und noch nie ein Wissenschaftler es auswerten konnte.

Die Handschriftensammlung der Luxemburger Nationalbibliothek (BnL) ist um einen großen Kunstschatz reicher: Vor wenigen Wochen hat die BnL eine rund tausend Jahre alte sogenannte Riesenbibel erworben. Die Handschrift wurde von Mönchen der Abtei St. Maximin in Trier unter Mithilfe von Mönchen der Echternacher Abtei verfasst und gilt als Meisterwerk der Echternacher Skriptoriumsschule.

Unter den weltweit insgesamt sehr wenigen noch vollständig erhaltenen Riesenbibeln aus dem 11. Jahrhundert war dieses Exemplar das letzte auf dem offenen Kunstmarkt noch erhältliche mit direkter Verbindung zur Echternacher Abtei. Das wertvolle Schriftstück zeugt Experten zufolge von der Bedeutung der Echternacher Abtei im 11. Jahrhundert und ist ein herausragendes Zeugnis für die Anfänge der Schriftkultur in Luxemburg. Auch für die Forschung ist das Dokument spannend, da es bisher stets in Privatbesitz war und noch nie ein Wissenschaftler es auswerten konnte.

Wie gelangt so ein Kunstschatz in den Verkauf? Und wieso ist es so wichtig, ihn nach Luxemburg zu holen? Ein Gespräch mit dem Altphilologen Luc Deitz, Leiter der Handschriften- und Zimelienabteilung der Nationalbibliothek.

Abbildung 1: Unser Interviewpartner Luc Deitz von der BnL (ganz rechts im Bild) bei der Pressekonferenz zur Riesenbibel am 5. November 2024, neben (v.l.n.r.) Thomas Falmagne (BnL), Minister Eric Thill und Claude Conter (BnL).

Wie erfuhr Luxemburgs Nationalbibliothek von der Möglichkeit, eine tausend Jahre alte Riesenbibel zu kaufen?

Unsere Experten in der Bibliothek wussten seit langem von der Existenz dieses wertvollen Stücks. Doch es gehörte einem Schweizer Privatsammler und war so für uns unerreichbar. Zu unserer Überraschung wollte der Sammler die Bibel im Jahr 2022 plötzlich verkaufen. Ein amerikanischer Kunsthändler unseres Vertrauens kontaktierte uns im Auftrag des Sammlers. Es folgten viele Gespräche mit Kulturministerium und Regierung, Gutachten zur Preisbestimmung, Verhandlungen. Anfang September dieses Jahres wurde die Riesenbibel schließlich geliefert. Es war ein ungeheuer aufregender Moment. Wir versammelten uns zu mehreren Mitarbeitern um die Bibel und mir kamen fast die Tränen…

Was fasziniert Sie so an dem Werk?

Das große handwerkliche Geschick und der künstlerische Aufwand. Beim Anblick der wunderbar schönen Handschrift, der frisch leuchtenden Farben und aufwendigen Ornamente verschlug es mir regelrecht die Sprache. 69 große und äußerst kunstvoll verzierte Initialen, gezeichnet mit roter Tinte in unendlich vielen verschlungenen Blumen- und Weinrebenmustern, gefüllt mit Rot, Purpur, Gelb, Grün, Orange und Blau, einige wie Marmor gemustert. Besonders eindrucksvoll sind die sogenannten „Teppichseiten“ mit ihren geometrischen Mustern im Stil byzantinischer Wandteppiche. Kunsthistorisch ist dieses Werk ein absolutes Unikat. Darüber hinaus hat diese Bibel eine fast ununterbrochene Herkunftslinie über beinahe tausend Jahre: Wir können fast durchgängig zurückverfolgen, wo sie sich wann befand und wem sie gehörte. Obendrein ist sie sehr gut erhalten und muss nicht restauriert werden.

Abbildung 1: Aufwändige Ornamente in leuchtenden Farben zeugen vom künstlerischen Geschick der Schreiber. Copyright: BnL / Brainplug

Von Trier über Mexiko in die Schweiz: Odyssee einer Bibel

Die jetzt von der BnL erworbene Bibel aus dem 11. Jahrhundert ist über einen halben Meter hoch, knapp 40 Zentimeter breit, wiegt rund 25 Kilogramm und wird wegen ihres Formats als Riesen- oder atlantische Bibel bezeichnet (nach dem Titan Atlas benannt).  Sie hat eine besonders große Schrift und wurde im Chor der Trierer Abteikirche aufgestellt, damit die Mönche daraus lesen und singen konnten. Die Riesenbibel enthält den vollständigen lateinischen Text des Alten und des Neuen Testaments (ohne die Psalmen und die Evangelien). Der Text ist mit zahlreichen verzierten Initialen und Malereien, den sogenannten Illuminationen, prunkvoll geschmückt.

Acht Jahrhunderte lang lag dieses Bibelexemplar in der Trierer St. Maximin-Klosterkirche. Das Angebot des Herzogs Karl Eugen von Württemberg im 18. Jahrhundert, die Bibel für 300 Golddukaten zu kaufen, schlugen die Mönche aus. Im Zuge der deutschen Mediatisierung wurde die Abtei aufgelöst, ihr Besitz verkauft und in alle Winde verstreut – darunter auch die Riesenbibel im Echternacher Stil. Sie ging durch die Hände vieler Privatsammler in den USA, Mexiko und der Schweiz. Nach langwierigen Verhandlungen konnte die Nationalbibliothek das historische Werk jetzt für 4.5 Millionen Euro ankaufen und in seine Heimatregion zurückbringen.

Abbildung 2: Die Riesenbibel wiegt rund 25 Kilogramm. Sie wurde im Chor der Trierer Abteikirche aufgestellt, damit die Mönche daraus lesen und singen konnten. Copyright: BnL / Brainplug

Dieses Bibelexemplar wurde größtenteils in der Trierer Abtei St. Maximin hergestellt. Wieso ist es so wichtig, das Dokument nach Luxemburg zu holen?

Auch der Stadt Trier wurde die Riesenbibel angeboten, doch sie konnte sie nicht kaufen, ebenso wenig wie das Land Rheinland-Pfalz. Die Trierer sind dankbar, dass Luxemburg dies übernommen hat. So kommt das Meisterwerk heim in unsere Region. Man kann hier ohnehin nicht zwischen Luxemburger oder deutschem Kulturgut unterscheiden, es gab zur Entstehungszeit ja noch keine Nationalstaaten. Hätte Luxemburg die Bibel nicht gekauft, wäre dieses Kulturerbe womöglich für immer in einer Privatsammlung verschwunden. Jetzt dagegen können wir es Bürgern und Forschern aus unserer Kulturregion zugänglich machen.

Vor allem aber wäre es ein Trugschluss, diese Bibel nur Trier zuzuordnen, auch wenn Trier als Produktionsort darin vermerkt ist. Die Abtei von Echternach war nach dem Brand von 1016 von Trier aus neu gegründet worden und gehörte zum Trierer Erzbistum. Die Klöster liehen sich gegenseitig Schreiber aus und arbeiteten zusammen. Eine etwa zehn Jahre ältere Bibelhandschrift, die wir bereits besitzen und die in Echternach produziert wurde, ist in ihrem Stil dem jetzt erworbenen Exemplar vergleichbar. Experten erkennen an den kunstvoll gestalteten Initialen – etwa der Art, wie ein V oder S ausgemalt wurde – eindeutig die Echternacher Schreibschule in beiden Bibeln. Es muss also mindestens ein Schreiber aus Echternach das Trierer Exemplar mitgestaltet haben. Es wäre falsch, zu trennen zwischen Echternach und einem physisch in Trier ansässigen Skriptorium, das intellektuell wie künstlerisch von Echternach abhängig war.

Was sagt das Manuskript aus über die Echternacher Abtei und Luxemburg?

Das Echternacher Benediktinerkloster gehörte im 11. Jahrhundert  zum Erzbistum Trier. Die Schreibstube – das Skriptorium – der Echternacher Abtei war zu jener Zeit weit über die Region hinaus bekannt für die künstlerische Qualität ihrer Handschriften, etwa den berühmten, heute in Nürnberg aufbewahrten „Codex aureus Epternacensis“. Die Abtei galt als große Schule der Buchmalerei und war eines der führenden Kulturzenten Europas auf dem Höhepunkt seiner Schriftkultur und künstlerischen Produktion. Dieses Manuskript ist ein weiterer Beleg dafür. Echternach verfügte über Rohstoffe wie Kalbshäute und Goldtinte, Handelsbeziehungen bis nach Byzanz und großes künstlerisches Savoir-Faire. Kaiser kamen nach Echternach, um Prunkhandschriften zu bestellen.

Kalbshäute und Goldtinte - Buchproduktion im Mittelalter

Die insgesamt 880 Seiten der jetzt erworbenen Riesenbibel bestehen aus gefalteten Pergamentblättern, die in vielen mühsamen Arbeitsschritten aus über 200 Kalbshäuten hergestellt wurden. Papier als Beschreibstoff war damals in Europa noch unbekannt und setzte sich erst im 13. Jahrhundert durch. Der Einband stammt aus dem 16. Jahrhundert und besteht aus Schweinsleder.

Der Text ist in karolinischer Minuskel verfasst. Diese Schrift wurde von Karl dem Großen in Europa verbreitet und zeichnet sich durch ein klares, einfaches Schriftbild aus.

Zum Schreiben benutzten die Mönche Federkeile und Tinte aus Dornenzweigen oder Goldtinte, zum Malen Farbmixturen aus Pflanzen, kostbaren Metallen oder Mineralien, die zum Teil aus dem Orient kamen. Schreiber und Illuminatoren arbeiteten vermutlich anderthalb bis zwei Jahre an dem Werk.

Die Echternacher Abtei war wie viele mittelalterliche Klöster Europas auch ein Zentrum für Bildung und Wissenschaft, eine intellektuelle Insel. Die Klosterbibliothek führte neben religiösen Büchern auch belletristische, juristische und Gebrauchsliteratur. Die Mönche dort lehrten und lernten Logik, Grammatik, Rhetorik oder Arithmetik, lange bevor Universitäten entstanden. Während die meisten Menschen in Europa damals weder lesen noch schreiben konnten, bewahrten die Mönche überliefertes Wissen durch Abschriften in ihren Schreibstuben. Sie zählten zur absoluten Spitze des Fortschritts. Die Riesenbibel ist also nicht nur ein historisches Stück, das die Sammlungen der Nationalbibliothek bereichert. Sie verkörpert auch die Anfänge der Schriftkultur in Luxemburg. Luxemburg knüpft damit an einen wesentlichen Teil seines Erbes und seiner Ursprünge an.

Wenn die BnL schon eine ähnliche Bibel besitzt - warum war es so wichtig, eine weitere zu erwerben?

Luxemburg hat vor vielen Jahrzehnten die einmalige Chance verpasst, den berühmten „Codex aureus Epternacencis“ zu kaufen und nach Hause zu bringen. Dieses Buch der Evangelien entstand etwa um 1030 in der Echternacher Abtei und gilt als die prunkvollste bis heute erhaltene Handschrift aus dem Frühmittelalter schlechthin. Sie gehört heute dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (D). Das wird in Luxemburg bis heute bedauert. Die jetzt gekaufte Riesenbibel ist der letzte Zeuge aus dem 11. Jahrhundert, der mit Echternach zu tun hat. Luxemburg konnte sich nicht nochmals so eine Chance entgehen lassen. Außerdem – wer wollte denn schon ernsthaft argumentieren, dass ein Museum, das bereits ein Gemälde besitzt, nicht auch noch ein zweites aufhängen dürfte – und vielleicht sogar sollte?

Werden Forscher die Bibel untersuchen und werden wir Bürger sie bald sehen können?

Sicher. Da diese Bibel immer in Privatbesitz war, hat noch nie ein Wissenschaftler sie sichten oder auswerten könnten – das wird eine Aufgabe für Jahrzehnte sein. Im Zuge des 225-jährigen Bestehens der Nationalbibliothek werden wir die Riesenbibel im Dezember 2024 für gut drei Monate öffentlich ausstellen und regelmäßig umblättern, um verschiedene Seiten zu zeigen. Die Panzerglas-Vitrine ist schon bestellt. Der Kauf eines so wertvollen Kulturguts ist ein Dienst an der Öffentlichkeit. Für das Gelingen dieses Projekts bin ich allen, die dazu beigetragen haben, sehr dankbar.

Vernissage, Ausstellung und Crowdfunding

Die jetzt erworbene Riesenbibel ist von Samstag, den 7. Dezember 2024 ab 14 Uhr bis zum 8. März 2025 in einem Teil der Ausstellungsräume der Luxemburger Nationalbibliothek (BnL) auf Kirchberg zu sehen. Der Eintritt ist kostenlos. Die Öffnungszeiten sind die üblichen der BnL.

Eine Vernissage findet am 7. Dezember um 11 Uhr statt. Die Ausstellung der Riesenbibel ist Teil einer zeitgleichen Vernissage der Ausstellung « Cloîtrés, connaisseurs et collectionneurs – les bibliothèques luxembourgeoises entre le 16e et le 19e siècle ». Interessierte sind gebeten, sich online anzumelden unter reservation.bnl.lu. Die Reservierungswebseite funktioniert ab dem 11. November 2024.

Die BnL hat zur Finanzierung des Kunstschatzes zudem eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Weitere Informationen gibt es hier.

Autorin: Britta Schlüter
Redaktion: Jean-Paul Bertemes (FNR)

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