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Ein Merkmal, das man in der großen Mehrheit der Trends findet, ist die Bedeutung des Affektiven, der Emotionen.

Der „Harlem Shake“, der „Bottle Flip“ oder auch kürzlich das Lied „Man in Finance“ – Sie erinnern sich vielleicht noch an diese Trends, die in den vergangenen zehn Jahren in den sozialen Netzwerken viral gegangen sind. Das Phänomen der Online-Viralität ist jedoch nicht neu. Bereits zu Beginn der Kommerzialisierung des Internets, in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, gingen einige Phänomene, wie beispielsweise das „Dancing Baby“ viral.

Seit den 90er-Jahren hat sich aber vieles verändert, unter anderem durch den Aufstieg von Social-Network-Giganten wie Facebook, X (früher Twitter), Instagram und TikTok. Um die Geschichte der Viralität besser zu verstehen, hat Prof. Valérie Schafer zusammen mit einem Team innerhalb des C²DH (Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History) an der Universität Luxemburg an dem Projekt „Hivi: Eine Geschichte der Online-Viralität“ gearbeitet. Wir hatten das Glück, ein Interview über dieses Projekt mit ihr führen zu können.

Valérie Schafer ist Professorin für zeitgenössische europäische Geschichte am C²DH (Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History) der Universität Luxemburg. Ihre Hauptforschungsgebiete sind die Geschichte der Informatik, des Internets, des Webs und der digitalen Kulturen. Sie ist außerdem Spezialistin für Web-Archive. Von 2021 bis März 2024 koordinierte sie das Projekt HIVI, das vom Luxembourg National Research Fund (FNR) gefördert wurde und sich mit der Geschichte der Online-Viralität befasst.

Foto: Valérie Schafer

Zunächst einmal, was versteht man unter Online-Viralität?

Viralität bezeichnet intensive Phänomene, die massenhaft geteilt werden und im Web sowie in den sozialen Medien während einer meist relativ kurzen Zeitspanne schnell an Sichtbarkeit gewinnen.

Eine genaue Definition aufgrund der Anzahl der Shares oder implizierten Internetnutzer aufzustellen ist unmöglich, da verschiedene Phänomene nur in gewissen Gemeinschaften oder auf bestimmten Plattformen viral gehen, während andere sich weltweit verbreiten und/oder von einer Plattform auf andere übergehen können. Außerdem, wenn man die Frage in einen historischen Zusammenhang stellen will, dann ist die heutige Viralität in Bezug auf die Zahlen und die Art, wie Inhalte geteilt werden, überhaupt nicht mehr mit der Vergangenheit vergleichbar. Die aktuellen viralen Phänomene gehen in der Tat manchmal weit über die Shares der Vergangenheit hinaus.

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Woher kommt das Wort Meme?

Das Wort Meme gab es bereits vor dem Internet, verwendet wurde es erstmals 1976 im Buch „Das egoistische Gen“ von Richard Dawkins. Wenn man heute von Memes spricht, denkt man sofort an diese Bilder mit Text, die oft witzig, manchmal etwas kritischer sind. Ursprünglich sind Memes jedoch kulturelle Elemente, die sich wie genetisches Material entwickeln - d. h., sie werden von einer Person auf eine andere übertragen, verändern sich jedoch auch dabei (Mutationen).

Viralität und Epidemien

Die Viralität digitaler Phänomene wird oft mit der Verbreitung eines Virus während einer Epidemie verglichen. In der Tat kommt es in beiden Fällen zu Ansteckung und Mutation. Auch wenn es Parallelen zwischen den beiden gibt, bei digitalen Phänomenen ist der Mensch niemals ein passives Subjekt, er entscheidet insbesondere, was er teilt. Und damit spielt er eine zentrale Rolle bei der Verbreitung von Kultur.

Haben Sie Gemeinsamkeiten in allen viralen Inhalten seit den 90er-Jahren bis heute gefunden?

Es gibt kein perfektes Rezept für die Schaffung viraler Trends, viele verschiedene Arten von Phänomenen können viral gehen. Zwischen den Tweets von Donald Trump, dem „Dab“ und der „Me Too“-Bewegung, um nur diese zu nennen, liegen Welten. Ein gemeinsames Merkmal findet man jedoch in der großen Mehrheit der Trends, und das ist die Bedeutung des Affektiven, der Emotionen. Diese Trends lassen uns etwas fühlen, sei es Humor durch einen Witz, Zärtlichkeit beim Anblick von Katzenfotos oder sogar Empörung angesichts von Skandalen.

Und was sind die Unterschiede?

In der Vergangenheit hing es wohl eher vom Zufall ab, ob etwas viral ging, und weniger von der Anzahl an Followern. Heute werden immer mehr Trends bewusst von Influencern aus den Bereichen der Politik, der Kultur oder den Medien organisiert. Soziale Netzwerke funktionieren über das Teilen und die Aufmerksamkeit und monetisieren diese. Viral gehen, Buzz schaffen, hat sich so zu einer wichtigen Marketing-Taktik entwickelt. Durch soziale Netzwerke wurden beispielsweise die Trinkflaschen der Marke Stanley letzten Winter zu einem Symbol der Generation Z.

Ein weiterer Unterschied ist der, dass heutzutage die Künstliche Intelligenz eine Rolle bei der Erstellung und Vermittlung von Inhalten spielen kann. Sie erinnern sich vielleicht an das Foto des Papstes in einer weißen Daunenjacke, das von einer KI erstellt wurde.

Gibt es luxemburgische virale Phänomene?

Selbstverständlich. Einige luxemburgische Inhalte verbreiten sich in der Luxemburger Gemeinschaft, während andere über die Grenzen hinausgehen. Gründe, weshalb verschiedene Inhalte in der luxemburgischen Sphäre verbleiben, sind die Sprache und/oder Bezüge, die vor allem im Land verstanden werden oder wichtig sind, zum Beispiel Memes über die luxemburgische Lokalpolitik. Doch nur weil es um Luxemburg geht, heißt noch lange nicht, dass sie nicht weltweit erfolgreich sein können. Ein bemerkenswertes Beispiel ist das Video „America First, Luxembourg Second“ von Ben Olinger und seinem Team aus dem Jahr 2017. Es lenkt von Stereotypen über Luxemburg ab und wurde auf YouTube über 1,5 Millionen Mal angesehen – das ist mehr als doppelt so viel wie die Einwohnerzahl Luxemburgs.

Inhalte auf Luxemburgisch haben demnach wenig Chancen, viral zu gehen?

Das ist nicht gesagt, im Endeffekt spielt die verwendete Sprache nicht immer eine große Rolle. Die meisten Trends sind verständlich und können Emotionen hervorrufen, unabhängig davon, ob man die verwendete Sprache versteht. Nehmen wir zum Beispiel das Video „Charlie Bit My Finger“ aus dem Jahr 2007, in dem ein Kind von seinem kleinen Bruder in den Finger gebissen wird. Jeder versteht, was geschieht, und man kann dieses Video witzig und rührend finden, ohne auch nur ein Wort Englisch zu verstehen. Die Emotionen, die von gewissen Videos, Memes oder Texten hervorgerufen werden, bilden eine universale Sprache, die von allen verstanden werden kann.

Wie haben Sie Viralität untersucht?

Es ist nicht einfach, Viralität zu untersuchen, viele Inhalte gehen verloren oder sind nur schwer zugänglich, deshalb ist es manchmal schwierig, vollständige Informationen über ein Phänomen aus der Vergangenheit zu erhalten. Wir mussten also mehrere Methoden testen und diese anpassen.

Zunächst einmal haben wir eine enorme Menge an Daten über die sozialen Netzwerke und Webarchive zusammengetragen. Wir haben mit Archivaren und Einrichtungen, die über Webarchive verfügen, wie beispielsweise die Luxemburger Nationalbibliothek, zusammengearbeitet. Wir haben auch die französisch- und englischsprachige Presse analysiert.

Anschließend haben wir Computertools eingesetzt, um unsere Daten z. B. nach Schlüsselwörtern, Anzahl von Likes und Benutzern zu sortieren. Wir haben auch Fotomaterial untersucht, aber das ist viel komplizierter, da einige Fotos in vielen verschiedenen Versionen auftauchen, so z. B. das Foto dieses kleinen Mädchens vor einem brennenden Haus mit dem Titel „Disaster Girl“, das seit seinem ursprünglichen Erfolg im Jahre 2008 mehrfach verändert wurde. Einige Internetnutzer haben einen Text hinzugefügt, andere das Haus ersetzt oder den Kopf des Mädchens ausgetauscht.

Können Sie uns ein Beispiel für ein von Ihnen untersuchtes Phänomen nennen, dessen Ergebnisse Sie überrascht haben?

Der Harlem Shake ist eines der Phänomene, die wir näher untersucht haben. Dieser abgefahrene Tanz zur Musik von DJ Baauer ging 2013 viral. Was am Harlem Shake interessant war, war die wichtige Rolle der Medien und der Musikindustrie, neben derjenigen der Internetnutzer. Nachdem wir Millionen von Tweets untersucht hatten, stellten wir fest, dass die meisten den Harlem Shake nur einmal erwähnten, die Shares stellten jedoch eine enorme Masse dar, während populäre Sendungen und performative Überschriften in der Presse (im Stil von „Ein Tanz, der viral gehen wird“) den Bekanntheitsgrad des Harlem Shake noch steigerten.

Haben Sie ein virales Lieblingsmeme?

Sie erinnern sich vielleicht an das Schiff Ever Given, das den Suezkanal im März 2021 sechs Tage lang blockierte? Dies führte zu einer Fülle von Memes, Tweets und Witzen. Und als das Schiff schließlich befreit war, ging der Hashtag „Put it back“ (auf Deutsch: Stellt es zurück) viral. Das ist einer meiner viralen Lieblingsmemes, denn es sagt viel über die Kreativität der Internetnutzer aus, die sich auch durch Humor, Einfallsreichtum, Abgefahrenheit und manchmal auch politische und wirtschaftliche Kritik auszeichnet.

Was können wir noch vom Hivi-Projekt erwarten?

Der Teil der offiziellen Forschung des Hivi-Projekts ist zwar abgeschlossen, es wird aber noch einen Zeitraum geben, in dem unsere Ergebnisse veröffentlicht werden. Außerdem werden wir vom 18. bis 20. November unsere Abschlusskonferenz in der Maison des Sciences Humaines auf dem Campus Belval veranstalten. Sie steht unter dem Thema „Online-Viralität: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Jeder ist willkommen, um bei diesen Diskussionen, die größtenteils auf Englisch geführt werden, dabei zu sein. Weitere Informationen finden Sie unter https://hivi.uni.lu/2024/06/25/hivi-final-conference-online-virality-past-present-future/.

 

 

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Die Katzen im Internet

Von Nyan Cat bis Grumpy Cat bis hin zum Teilen von Katzenfotos, um 2015 in Brüssel von Antiterror-Polizeieinsätzen abzulenken, Katzen sind die wirklichen Stars im Internet. Seit 2007 gibt es sogar eine Website (I Can Has Cheezburger), die hauptsächlich Memes, Videos oder sonstige Inhalte mit Katzen teilt oder veröffentlicht. Es gibt auch den Begriff LOLcat für Fotos von Katzen mit eingeblendetem Text, der oft humorvoll und in einer LOLspeak genannten Internetsprache verfasst ist.

Autorin: Eléonore Pottier
Redaktion: Michèle Weber, Jean-Paul Bertemes (FNR)
Übersetzung: Nadia Taouil (t9n.lu)

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