Chambre des Députés

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Die Gesellschaft Luxemburgs ist materialistischer geworden. Wohnen, Kaufkraft und Sicherheit machen den Bürgern mehr Sorgen als Freiheit oder Umweltschutz. Das ist eine der zentralen Erkenntnisse der POLINDEX-Studie 2024. Die repräsentative Umfrage im Vorfeld der Europawahlen hat den Bürgerinnen und Bürgern den Puls gefühlt und zahlreiche Trends observiert. Woher der neue Wertewandel rührt und wie er die Wahlen beeinflusste, was die Menschen in Luxemburg von der Regierung, der EU und der Demokratie halten und was dies jenseits der aktuellen Wahlergebnisse für Politik und Zusammenhalt bedeutet, erklärt Prof. Dr. Philippe Poirier, Inhaber des Lehrstuhls für Parlamentarische Studien an der Universität Luxemburg.

Prof. Dr. Philippe Poirier, habilitiert in Sozial- und Politikwissenschaften, Inhaber des Forschungslehrstuhls für Parlamentsstudien der Abgeordnetenkammer Luxemburgs und der Parlamentarischen Versammlung der Frankophonie an der Universität Luxemburg, Studiendirektor des Masterstudiengangs in Parlamentsstudien, derzeit Gastprofessor an den Universitäten Sciences Po Rennes und Sciences Po Paris 2024. Ständiger Gastprofessor an der Universität Turin. Sachverständiges Mitglied der Staatengruppe gegen Korruption des Europarats und des AFCO-Ausschusses des Europäischen Parlaments, Mitglied der European Science Foundation, College of Expert Reviewers in Social Sciences (Government and Governance, Legislative Studies, Democratic Studies, Comparative Policy North America and Europe), Sachverständiger des „Haut Conseil de l'évaluation de la recherche et de l'enseignement supérieur“, Mitglied des wissenschaftlichen Rates des European Institute.

Philippe Poirier

© Université du Luxembourg

 

POLINDEX 2024 hat Luxemburgs Wählern im Vorfeld der Europawahlen 2024 den Puls gefühlt, jetzt hat Europa gewählt. Haben sich Ihre Prognosen bestätigt?

Wir hatten vorausgesagt, dass sich bei den Europawahlen 2024 die Verteilung von zweien der sechs Sitze Luxemburgs im Vergleich zu 2019 ändern könnte. Unserer Umfrage zufolge würde die CSV die attraktivste Option bleiben, die DP und déi Gréng würden abgestraft, ADR und Sozialisten würden bei den Listenstimmen zulegen. Und so kam es. Die DP musste einen Sitzverlust hinnehmen, der Abwärtstrend der Grünen in mehreren Ländern zeigte sich auch in Luxemburg, und die ADR hat einen Sitz im Europaparlament errungen.

Die Abgeordnetenkammer hat den Lehrstuhl mit dieser Studie beauftragt. Warum?

Am Lehrstuhl für parlamentarische Studien der Universität Luxemburg führen wir seit langem alle fünf Jahre vor oder nach Landes- oder Europawahlen Umfragen durch. Doch deren Resultate sind kurzlebig. Jährliche Erhebungen erlauben es viel besser, den Einfluss großer Ereignisse wie Krisen oder Kriege auf Meinungen und Wahlverhalten der Menschen zu untersuchen. Genau das leistet POLINDEX. Das ist weit mehr als eine Wahlprognose. Denn wir fragen auch Werte und Einstellungen der Menschen zu Politik, Demokratie und Institutionen, Wirtschaft und Sozialem, Arbeit und Umwelt ab. Für Luxemburg ist POLINDEX ein wertvoller Fundus an soziopolitischen Daten und ein tolles soziologisches Instrument, das die großen Entwicklungen der Gesellschaft aufzeigt mit dem Ziel, die Entscheidungsfindung zu verbessern. Die Ergebnisse werden der Abgeordnetenkammer präsentiert, von Ministerien und Regierung genutzt und dienen uns Wissenschaftlern als Basis für Analysen. Letztes Jahr haben wir allein in Luxemburg über tausend Seiten an Forschungsergebnissen dazu veröffentlicht.

Wer steckt hinter POLINDEX?

Das Politische Observatorium oder POLINDEX ist eine soziologische Studie des Forschungslehrstuhls für Parlamentsstudien der Universität Luxemburg im Auftrag der Abgeordnetenkammer. Die Studie untersucht den politischen und sozialen Zustand Luxemburgs und vergleicht diese mit Umfragen in anderen europäischen Demokratien wie Deutschland, Frankreich, Italien und dem Vereinigten Königreich. In Luxemburg wird dafür seit 2023 jährlich im April oder Mai in Zusammenarbeit mit der Firma ILRES eine repräsentative Gruppe von rund tausend Luxemburgern und 500 ausländischen Einwohnern befragt. Der umfangreiche Fragenkatalog wurde vom Lehrstuhl für Parlamentsstudien in Partnerschaft mit der Freien Universität Berlin, SciencePo in Paris, der Luiss University in Rom und der London School of Economics entwickelt. Die Fragen basieren unter anderem auf dem Wertewandel-Modell des berühmten amerikanischen Soziologen Ronald Inglehart, der auch den „World Value Survey“ initiierte.

POLINDEX 2024 wartet mit einer langen Liste an Resultaten auf. Was ist für Sie die wichtigste Schlussfolgerung überhaupt?

Dem US-Soziologen Ronald Inglehart zufolge nimmt bei steigendem Wohlstand das Streben einer Gesellschaft nach materialistischen Werten wie Sicherheit oder Ordnung ab und das nach postmaterialistischen Werten wie zum Beispiel Selbstverwirklichung zu. Ab etwa 2015 konnte man diesen Trend auch hier im Land beobachten: Themen wie Umweltschutz oder Lebensqualität wurden immer wichtiger. 2024 aber hat sich bestätigt, was sich schon 2023 abzeichnete: Es gibt wieder einen Trend zum Materialismus. Luxemburgs Gesellschaft ist heute viel materialistischer als etwa im Jahr 2018. Von den zehn am häufigsten genannten Themen, die den Menschen derzeit Sorgen machen, sind bei den Luxemburgern neun und bei den Ausländern acht „materialistisch“. Heute lauten die Hauptsorgen der Menschen: Preisanstieg und nachlassende Kaufkraft, Wohnungsnot, soziale Ungleichheit, Sicherheit. Das einzige „postmaterialistische“ Thema, das in der Gunst der Bürger noch hoch steht, bleibt der Klimawandel.

Woher rührt dieser Wandel?

Auslöser ist ganz klar der Krieg in der Ukraine. Er hat der Öffentlichkeit in Luxemburg wie in anderen EU-Ländern vor Augen geführt, dass die EU nicht über ausreichend eigene Energiequellen verfügt und massiv investieren muss. Die Stromrechnungen der Bürger vervielfachten sich, Inflation, Miete und Lebenshaltungskosten stiegen. Auch den Menschen in Luxemburg wurde bewusst, dass das Land starkes Wachstum, wirtschaftliche Diversifizierung und neue Energiequellen braucht - wenn sie ihren Lebensstandard halten wollen.

Unter den Ausländern reagieren Gruppen wie Deutsche und Portugiesen am sensibelsten auf diese Krise: die Deutschen wegen der historischen Traumas der Hyperinflation 1923 und die Portugiesen, weil sie nach Luxemburg kamen für den Traum vom besseren wirtschaftlichen Leben und diesen Traum bedroht sehen. Themen wie Umweltschutz rücken infolgedessen in die zweite Reihe. Dieser Wertewandel zeichnete sich schon 2023 ab und wir haben damals schon Verluste der Grünen bei den Nationalwahlen prognostiziert, die sich dann bestätigten.

Generell betrachtet, wird unser Denken und Handeln immer mehr geprägt von wirtschaftlichem Individualismus. Das heißt, der Einzelne steht im Wettbewerb und ist für seinen ökonomischen Erfolg oder Misserfolg selbst verantwortlich. Das führt zu einer größeren Volatilität oder Unstetigkeit in allen Lebensbereichen - ob in den politischen Einstellungen, im Beruf oder im Privatleben. So hatte ein Drittel der Wähler eine Woche vor den Europawahlen 2024 noch keine Wahlentscheidung getroffen, immer weniger Menschen wollen noch ein Leben lang für denselben Arbeitgeber arbeiten, und auch soziale Beziehungen und Freundschaften werden instabiler.

Wie Luxemburgs Bürger ihre Wirtschafts- und Lebenssituation sehen

  • Die Luxemburger sind vor allem in einer Stimmung des Wohlbefindens (33%), aber auch der „Politikverdrossenheit“ (31%) und des Misstrauens (29%). Die ausländischen Mitbürger sind vor allem in einer Stimmung des Misstrauens (39%) und der Politikverdrossenheit (30%), Wohlbefinden kommt erst an dritter Stelle (23%).
  • Luxemburger wie Ausländer sind mit ihrem Leben im Großherzogtum dennoch eher zufrieden und bewerten dies mit 7,2 bzw. 6,7 von 10 Punkten.
  • 48 Prozent der Luxemburger und 45 Prozent der ausländischen Einwohner sind optimistisch in Hinsicht auf die wirtschaftliche Zukunft Luxemburgs.
  • Der Wohnungsmarkt bleibt das wichtigste politische Anliegen aller Einwohner. Von den zehn am häufigsten genannten Themen, die ihnen Sorge bereiten, sind die meisten materialistischer Natur.
  • Die wichtigsten Prioritäten für alle sind die Bekämpfung des Preisanstiegs und die Verringerung der sozialen Ungleichheit.

Quelle: Chaire de recherche en études parlementaires, Université du Luxembourg 2024

Warum wurden in Luxemburg nicht nur Wähler, sondern auch ausländische Bürger ohne Wahlrecht bei Nationalwahlen befragt?

Weil sie einen Einfluss auf Luxemburgs Gesellschaft haben. Vor 20 Jahren lagen Werte und Haltungen der Luxemburger und der Ausländer im Land noch weit auseinander,  ob in Sachen Religion, Wirtschaft oder Arbeit. Mit der Zeit beeinflussten sich Luxemburger und Ausländer gegenseitig und glichen sich in ihren Sichtweisen an. So hat sich Luxemburg über die Jahre von einer nach Werten unterteilten Gesellschaft zu einer Gesellschaft mit nahezu gemeinsamen Werten entwickelt. Ein gutes Beispiel ist der Anteil der in Vereinen engagierten Bürger. Dieser zählte in Luxemburg über lange Zeit zu den höchsten Europas. Doch in den vergangenen fünf Jahren ging er von 45 auf unter 30 Prozent zurück. Das Vereinswesen in Luxemburg zerfällt. Das sind Auswirkungen des wirtschaftlichen Individualismus, der von Ausländern und Luxemburgern entwickelt wurde.

Das Vereinswesen in Luxemburg zerfällt. Das sind Auswirkungen des wirtschaftlichen Individualismus, der von Ausländern und Luxemburgern entwickelt wurde.

Prof. Dr. Philippe Poirier

Welche Folgen hat dieser Individualismus für politische Parteien?

Dieser Trend hat Folgen für alle Organisationen, die auf der Idee von Gemeinschaft aufbauen. Eine Partei ist ein „Wir“ - doch unsere Gesellschaft tendiert weg vom „Wir“ und hin zum „Ich“. Die Menschen haben immer mehr Schwierigkeiten, Kompromisse zu machen, wenn sie nicht mit allen Standpunkten einverstanden sind. Das zeigte sich in POLINDEX im nachlassenden Vertrauen in die Parteien: 29 Prozent der Luxemburger und 39 Prozent der ausländischen Mitbürger sind der Meinung, dass keine der luxemburgischen Parteien in der Lage ist, die wichtigsten Probleme Luxemburgs zu lösen. Die Parteien, ob in Regierung oder Opposition, scheinen demnach von dieser Werteverschiebung bisher wenig zu profitieren. Ein positives Beispiel dagegen ist, dass sich die ausländischen Einwohner immer mehr für Luxemburgs Politik interessieren. Das ist ein langsamer Prozess, aber er läuft.

Was Luxemburgs Bürger über die Politik denken

  • Je 54 Prozent der Luxemburger und der ausländischen Einwohner sind vor allem misstrauisch, wenn sie an Politik denken.
  • Die Luxemburger positionieren sich selbst in der Mitte des politischen Spektrums (38%), während die ausländischen Mitbürger dies etwas weiter rechts tun (36%)
  • Die Zustimmung zur Bilanz der derzeitigen CSV-DP-Regierung beträgt bei den Luxemburgern 5,3 und bei den Ausländern 5,5 von 10 Punkten.
  • 29 Prozent der Luxemburger und 39 Prozent der ausländischen Mitbürger sind der Meinung, dass keine der luxemburgischen Parteien in der Lage ist, die wichtigsten Probleme Luxemburgs zu lösen.
  • 54 Prozent der Luxemburger finden, die Bürger sollten bei den wichtigsten politischen Entscheidungen per Referendum das letzte Wort haben.
  • 50 Prozent der Luxemburger sind nach wie vor gegen eine Ausweitung des Wahlrechts für ausländische Einwohner bei Nationalwahlen, 38 Prozent sind dafür.
  • Fast 48 Prozent der Luxemburger wünschen sich, dass Luc Frieden eine wichtige Rolle auf EU-Ebene spielt, und etwas mehr als ein Drittel Nicolas Schmit und Ursula Von der Leyen.

Quelle: Chaire de recherche en études parlementaires, Université du Luxembourg 2024

Haben die Bürger überhaupt noch Vertrauen in die Demokratie?

Ja, sowohl Luxemburger als auch ausländische Einwohner äußerten in der Umfrage großes Vertrauen in die Demokratie in Luxemburg. 77 Prozent der Luxemburger Bürger und 69 Prozent der Ausländer sind sehr oder ziemlich zufrieden mit dem Funktionieren der luxemburgischen Demokratie. Das sind ähnlich hohe Werte wie in Skandinavien, während in anderen EU-Staaten nur noch eine knappe Mehrheit der Demokratie vertraut. Allerdings sind nur 50 Prozent der Meinung, dass das politische System in Luxemburg den Menschen die Möglichkeit gibt, die Handlungen der Regierung zu beeinflussen.

Deshalb fordern die Bürger mehr Teilhabe. Zur Wahlurne zu schreiten, reicht ihnen nicht mehr. Sie wollen Volksreferenden, Petitionen, Bürgerforen und andere Formen der direkten Teilhabe. Einerseits ist dieses Bürgerengagement eine positive Dynamik. Andererseits wird es für Parlamente und Regierungen so immer komplizierter, Kompromisse zu finden und Entscheidungen zu fällen. Und was besonders besorgniserregend ist: Etwa ein Drittel der Befragten, Luxemburger wie Ausländer, würde ein politisches Entscheidungssystem, das vor allem auf Effizienz fußt, gegenüber einem demokratischen System den Vorzug geben.

Wie Luxemburgs Bürger zur Demokratie stehen

  • 77 Prozent der Luxemburger und 69 Prozent der Ausländer sind sehr oder ziemlich zufrieden mit dem Funktionieren der luxemburgischen Demokratie, doch nur 52 Prozent der Luxemburger und 48 Prozent der Ausländer mit dem Funktionieren der Demokratie in der Europäischen Union.

  • Bei den Luxemburgern genießt der Europäische Gerichtshof unter den demokratischen Institutionen das größte Vertrauen, gefolgt von der Armee und an der Abgeordnetenkammer. Die Regierung belegt nur den vierten Platz. Bei den Ausländern kommt die Regierung an dritter und das Parlament an vierter Stelle.

  • Ein Drittel der Befragten, Luxemburger wie Ausländer, würde ein System, das auf Effizienz und nicht auf Demokratie basiert, vorziehen (Anstieg um 12 Prozentpunkte im Vergleich zu 2018).

Quelle: Chaire de recherche en études parlementaires, Université du Luxembourg 2024

Ist das ein Luxemburger Phänomen?

Nein, dieses Phänomen finden wir auch in Umfragen der anderen Länder, mit denen wir kooperieren. Für etwa ein Drittel der Bevölkerung ist Effizienz der Wert Nummer eins – nach dem Motto: „Auch ein technokratisches oder sogar autoritäres Regime wäre für mich ok, solange diese Politik für mich persönlich vorteilhaft ist.“ Die Demokratie wird nur solange unterstützt, solange sie für den Einzelnen funktioniert. Das ist meiner Ansicht nach eine Art politischer Egoismus. Auch die Tendenz zum Materialismus ist in allen fünf Ländern ähnlich, aber in Luxemburg stärker ausgeprägt. Luxemburg hat den Wertewandel schneller absolviert, in weniger als zehn Jahren - und deshalb schwingt das Pendel bei uns stärker aus.

Für etwa ein Drittel der Bevölkerung ist Effizienz der Wert Nummer eins – nach dem Motto: ,Auch ein technokratisches oder sogar autoritäres Regime wäre für mich ok, solange diese Politik für mich persönlich vorteilhaft ist.‘

Prof. Dr. Philippe Poirier

Warum ändern sich Werte in Luxemburg denn schneller?

Dazu haben wir keine Forschungsergebnisse, das kann die Umfrage allein nicht erklären. Ich kann nur mit einer persönlichen Hypothese aufwarten: Luxemburgs offene Wirtschaft passt sich schneller an als andere Volkswirtschaften und ist dynamischer, sie ist aber auch abhängiger von äußeren Einflüssen und in Phasen der Stagnation oder Krise verwundbarer. Das hat dann schnell Folgen für die Beschäftigten und das Leben des Einzelnen, und dessen sind sich die Menschen sehr bewusst geworden.

Nach den jüngsten Europawahlen könnten europaskeptische Parteien stärkeren Einfluss nehmen. Wie groß ist das Vertrauen der Bürger in EU-Institutionen?

Die Mehrheit der Menschen in Luxemburg ist laut POLINDEX überzeugt, dass es auf EU-Ebene Probleme mit der Demokratie gibt und manche Politikbereiche Ländersache bleiben sollten – vor allem Steuerpolitik, Sozialpolitik, Bildungs- oder Gesundheitsfragen. Denn die Luxemburger haben Angst, Vorteile zu verlieren, wenn die EU übernimmt. 44 Prozent sind der Meinung, dass das Sozialmodell Luxemburgs durch die EU bedroht wird - ein Anstieg um fast 5 Punkte im Vergleich zu den Europawahlen 2019.

Nach der europäischen Integration über viele Jahre wollen die Bürger nun, dass die Nationalstaaten wieder mehr Kontrolle übernehmen.

Prof. Dr. Philippe Poirier

Ob zu Recht oder zu Unrecht: Die Mehrheit bewertet die EU-Politik als nicht funktionsfähig. Nach der europäischen Integration über viele Jahre wollen die Bürger nun, dass die Nationalstaaten wieder mehr Kontrolle übernehmen. Die Idee einer gemeinsamem EU-Armee sowie gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik, EU-Außenhandel und -Industriepolitik finden dagegen die Unterstützung der Bürger. Wir sind offenbar in einer neuen Phase, in der die Menschen zwar nicht grundsätzlich EU-skeptisch sind, aber ein neues Gleichgewicht zwischen europäischer und nationaler Politik erwarten. Auch die Rufe nach EU-Reformen werden lauter, und auch dabei geht es immer um Effizienz.

Wie Luxemburgs Bürger zur Europäischen Union stehen

  • Nur 26 Prozent der Luxemburger und 16 Prozent der ausländischen Einwohner haben die Kampagnen zu den Europawahlen in Luxemburg verfolgt.
  • Fast 36 Prozent der Wahlberechtigten in Luxemburg wollten sich erst in der Woche vor der Europawahl entscheiden, welche Partei oder welche Kandidaten sie wählen.
  • 44 Prozent der Ausländer und 37 Prozent der Luxemburger meinen, dass die EU einen positiven Einfluss auf ihr tägliches Leben hat.
  • 44 Prozent der Luxemburger finden, dass das Sozialmodell Luxemburgs durch die EU bedroht ist - ein Anstieg um fast 5 Punkte im Vergleich zu den Europawahlen 2019.
  • 69 Prozent der Luxemburger befürworten eine gemeinsame Grenzpolizei und ein europäisches Asylamt.

Quelle: Chaire de recherche en études parlementaires, Université du Luxembourg 2024

Handelt es sich um eine Generationenfrage?

Unserer Studie zufolge machen sich in Luxemburg Menschen im Alter von 45 bis 54 Jahren derzeit die meisten Zukunftssorgen. Auch die 35- bis 44-Jährigen zeigen sich sehr besorgt. Beide Generationen zusammen bilden einen enormen Block. Diese Generationen sind beruflich am aktivsten und stellen das sozioökonomische Herz der Gesellschaft dar. Bis zu 45 Prozent sind eher pessimistisch, misstrauisch, politikmüde und EU-skeptisch. Das ist zwar nicht die Mehrheit, aber eine starke Minorität. Rund ein Drittel fürchtet, dass ihre Kinder es einmal schlechter haben werden als sie.

In Luxemburg machen sich Menschen im Alter von 45 bis 54 Jahren derzeit die meisten Zukunftssorgen. Bis zu 45 Prozent sind eher pessimistisch, misstrauisch, politikmüde und EU-skeptisch.

Prof. Dr. Philippe Poirier

Was bedeuten die Fixierung auf Effizienz, das wachsende Misstrauen und die Politikverdrossenheit der Bevölkerung für die politischen Entscheidungsträger?

Die Zustimmungsrate zur neuen Luxemburger Regierung erreichte 5,3 von 10 Punkten. Die liegt normalerweise höher. Doch die wirtschaftlichen Fragen sind den Menschen derzeit sehr wichtig. Sie erwarten Effizienz im Management der Wohnungskrise und stellen sich die Frage, ob die Regierung ausreichend auf ihre Sorgen eingeht. Eine weitere Folge der neuen Volatilität ist, dass die Sieger von gestern schnell die Verlierer von morgen sein können - und andersherum. Die Menschen wählen eine Partei nicht mehr aus Familientradition. Halten sie eine Partei nicht für effizient, wählen sie sie nicht mehr.

Diese Einstellung ist noch nicht die der Mehrheit, aber diese Minderheit wächst. Die Wähler urteilen auf Basis dessen, was sie in ihrem persönlichen Alltag erleben. Langfristige Wirtschaftsprognosen und Perspektiven verfangen bei den Menschen nicht mehr, sie sind geprägt von Kurzzeitdenken. Sie fragen sich, was sie in den nächsten Monaten von einer Regierung haben, nach dem Motto: ich mache mir jetzt hierzu Sorgen und ich erwarte hier und jetzt Lösungen. Der Umgang damit ist nicht nur für Politiker und Parteien, sondern zum Beispiel auch für Arbeitgeber schwierig. Die wissenschaftliche Forschung hat meines Wissens nach noch keine Antworten darauf.

Was wird POLINDEX 2025 messen – werden Sie neue Themen aufnehmen?

Nächstes Jahr wollen wir auch die Luxemburger befragen, die in den Nachbarländern leben, denn sie repräsentieren eine große Gruppe. Wir werden ganz neu auch Fragen zu  Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und den Folgen für Arbeit, Gesundheit, Bildung und Gesellschaft aufnehmen. Denn dieser rasante technologische Wandel wird sich auf die gesamte menschliche und gesellschaftliche Entwicklung auswirken.

Autorin: Britta Schlüter
Redaktion: Jean-Paul Bertemes (FNR)

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