Work Life Balance

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Francesco Sarracino kennt sich aus mit Arbeit. Mit ihrer Wirkung auf den einzelnen Menschen. Und mit ihrer Rolle für die Gesellschaft insgesamt. Er ist Head of Unit Well-being and Entrepreneurship der Research Division am STATEC. Von ihm wollten wir wissen, wie viel Arbeit gesund ist, wie sich eine Änderung der Arbeitszeit auf verschiedenste Bereiche unseres persönlichen Lebens und auf unsere Gesellschaft als Ganzes auswirken würde. Hier seine Meinung.

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Francesco Sarracino – Kurzbiografie 

Francesco SARRACINO ist seit September 2012 in der Forschungsabteilung von STATEC tätig. Seine Arbeit zielt darauf ab, Strategien zu identifizieren, die das Wirtschaftswachstum mit dem Wohlergehen der Menschen in Einklang bringen und letztlich eine nachhaltige Entwicklung anstreben. Er trägt auch zur methodischen Umfrageforschung bei. Er ist Mitglied des World Wellbeing Panel, des Verwaltungsrats der International Society for Quality of Life Studies (ISQOLS) und externer Experte von Eurofounds. Seine Arbeiten wurden in Fachzeitschriften wie World Development, Ecological Economics, Cambridge Journal of Economics, Journal of Happiness Studies und Social Indicators Research veröffentlicht. Er hat einen Doktortitel in Entwicklungsökonomie von der Universität Florenz (IT). Bevor er zum STATEC kam, war Francesco Post-Doktorand am CEPS/Instead und DAAD-Stipendiat bei GESIS (Deutschland). 

Herr Sarracino, wie viel Zeit pro Woche sollten wir am Arbeitsplatz verbringen, damit unser Wohlbefinden nicht in Mitleidenschaft gezogen wird?

„Ich denke, es ist eine Frage der Qualität der Arbeit, wie viel davon gesund ist. Studien zeigen, dass es für das Wohlbefinden unter anderem wichtig ist, dass wir sinnvolle Beziehungen pflegen. Und der Arbeitsplatz bietet die Möglichkeit dazu. Wenn man sich dort als Mensch entfalten, positive Beziehungen aufbauen, das Vertrauen in andere gewinnen kann und sich bewusst wird, dass man etwas tut, das für andere von Bedeutung ist und der Gemeinschaft hilft – dann ist, glaube ich, selbst eine traditionelle 40-Stunden-Arbeitswoche noch gut für das Wohlbefinden.“ 

Wozu dann der ganze Wirbel um eine verkürzte Arbeitswoche? Lassen wir doch einfach alles so, wie es ist. 

„Das Thema ist schon ein wenig komplexer. Generell bin ich der Meinung, dass eine kürzere Arbeitswoche dem Wohlbefinden der Menschen zuträglich ist. Doch das hängt direkt davon ab, wie man die zusätzliche Zeit nutzt. Wenn wir diese zusätzliche Zeit nutzen, um unsere Leidenschaft zu kultivieren oder Zeit mit Menschen zu verbringen, die uns am Herzen liegen, wird das definitiv ein Schub für das Wohlbefinden sein. Nutzt man hingegen die gewonnene Zeit, um einen zweiten Job auszuüben und zusätzliches Geld zu verdienen, würde das nichts verbessen – weder für uns als Individuen noch für die Gesellschaft.“ 

Eine wichtige Voraussetzung wäre dann aber, dass wir das gleiche Geld verdienen, auch wenn wir weniger arbeiten. Dann müssten wir die gleiche Leistung in weniger Zeit erbringen? Ist das überhaupt möglich? Und ist das auch gesund? 

Ich glaube, dass es möglich ist. Glücklichere Menschen sind produktiver. In einer traditionellen Produktionsfunktion bedeutet dies, dass Glück zur Umwandlung von Kapital und Arbeit in Produktion beiträgt. Und damit den Output erhöht. Es ist jedoch auch möglich, den Output unverändert zu lassen. In diesem Fall würde Glück es uns ermöglichen, den Arbeitseinsatz in der Produktion zu verringern – technisch gesehen eine Verringerung der Arbeitszeit. Produktivitätsgewinnen, die mit höherem Wohlbefinden einhergehen zu nutzen, um die Arbeitszeit zu verringern, ist eine sehr vernünftige Entscheidung. Traditionell werden Produktivitätsgewinne in Geld umgewandelt, das ungleich in der Gesellschaft verteilt wird. Zeit kann nicht ungleich verteilt und nicht gelagert werden. Sie kann nur genutzt werden. Und jeder kann sie so genießen, wie er es für richtig hält. Die Umverteilung von Zeit ist eine egalitäre Maßnahme. Sie ermöglicht es den Menschen, ihre Zeit dem zu widmen, was sie lieben und was ihnen wichtig ist. Die Vorteile sind unvorstellbar: Die Menschen wären beispielsweise weniger gestresst, würden seltener krank werden oder gesünder leben. Das verringert den Druck auf das Gesundheitssystem. Die Menschen hätten Zeit, darüber nachzudenken, was sie im Leben wirklich lieben, und eine Arbeit zu finden, die ihnen wichtig ist. Das würde die Arbeitsverdichtung zugunsten der Produktivität verringern. Die Menschen könnten den Marktkonsum und den Verbrauch importierter Waren verringern, weil sie sich der lokalen Produktion von Lebensmitteln oder der Selbstproduktion zuwenden könnten.

In einer Studie, die im Journal of Happiness Studies veröffentlicht wurde, schätzt Francesco Sarracino und seine Kollegen, dass das Wohlbefinden der Menschen zu Effizienzgewinnen in der Produktion in einer Auswahl europäischer Länder beiträgt. 

Ihre Schätzungen deuten darauf hin, dass in Ländern wie Frankreich oder Deutschland Effizienzgewinne in der Größenordnung von fast 80 Stunden erzielen werden könnten, wenn die Lebenszufriedenheit, ein allgemein verwendetes Maß für das subjektive Wohlbefinden, um eine Einheit steigt. „Das heißt, wenn wir die Lebenszufriedenheit um 1 Einheit erhöhen, könnten wir alle fast 2 Wochen weniger arbeiten, während das Produktionsniveau unverändert bliebe“, sagt Francesco Sarracino. 

Er fährt fort: „Dieses Argument bezieht sich auf die kürzere Wochenarbeitszeit: Wenn es stimmt, dass eine Arbeitszeitverkürzung der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Menschen zugutekommt, können wir davon ausgehen, dass dies zu ihrer Produktivität beiträgt. Der Produktivitätszuwachs kann zur Finanzierung der kürzeren Wochenarbeitszeit verwendet werden. In Anbetracht der Tatsache, dass die Lebenszufriedenheit am Arbeitsplatz in ganz Europa eher gering ist, dürfte eine Steigerung der Lebenszufriedenheit um eine Einheit nicht allzu schwierig sein.“ 

Hier der Link zur Publikation: DiMaria, C.H., Peroni, C. & Sarracino, F. Happiness Matters: Productivity Gains from Subjective Well-Being. J Happiness Stud 21, 139–160 (2020). https://doi.org/10.1007/s10902-019-00074-1 

Und wir sieht das bei Berufen aus, die generell schon an zu viel Arbeitsdruck in zu wenig Zeit leiden. Im Medizinbereich zum Beispiel? 

„In manchen Berufen ist das eben Gesagte noch viel wichtiger. Dabei geht es nicht nur um das Krankenhaus. Es geht um alle Berufe, in denen wir mit anderen zu tun haben. Das Wohlbefinden der Mitarbeiter ist sehr wichtig, denn es spiegelt sich direkt in der Qualität der Beziehung wider, die sie mit dem Kunden aufbauen. Die Krankenschwester ist nicht nur da, um Blut abzunehmen. Sie muss ihren Patienten auch verstehen; fühlen, wenn er Angst hat oder wenn er jemanden zum Reden braucht. Das gilt auch in den Pflegeheimen. Dort geht es nicht nur darum, Essen auszugeben. Es ist auch wichtig, sich die Zeit zu nehmen, mit den alten Menschen zu sprechen, sie zu verstehen, sich ihre Sorgen anzuhören und ihnen das warme Gefühl zu geben, dass sie Teil der Gemeinschaft sind. Das ist es, was für das Wohlergehen der Menschen und die Auswirkungen auf die Welt von Bedeutung ist. Es ist also die Qualität der Dienstleistung, die der Mitarbeiter erbringt. Und diese Qualität steigt mit dem eigenen Wohlbefinden der Mitarbeiter.“ 

Schauen wir uns Luxemburg an. Würde eine kürzere Arbeitszeit bei gleichem Geld den Menschen hier guttun? 

„Ich glaube, dass eine kurze Wochenarbeitszeit für das Wohlbefinden der Menschen hier hilfreich sein kann. Denn gerade in Luxemburg verbringen wir viel Zeit mit dem Pendeln. Insbesondere wenn wir Grenzgänger sind oder wenn wir nicht in der Stadt wohnen, pendeln wir oft eine Stunde oder länger. Das schadet dem Wohlbefinden und der Gesundheit. Wenn man also weniger arbeiten würden, sparen wir Zeit, die wir auf andere Weise sinnvoll nutzen könnten.“ 

Welches Arbeitszeitmodell ist Ihrer Meinung nach dafür geeignet? 

„Ich würde mich wahrscheinlich für die 4-Tage-Woche entscheiden. Denn wenn wir die Arbeitszeit um eine Stunde pro Tag reduzieren und trotzdem fünf Tage in der Woche arbeiten, müssen wir ja genauso oft pendeln wie heute. Aber ich glaube nicht, dass es eine einheitliche Lösung für alle gibt, wenn es um die Reduzierung der Arbeitszeit geht. Wir sollten bereit sein, eine gewisse Vielfalt in allen umzusetzenden Dimensionen einzuführen.“ 

Lassen Sie uns darüber sprechen, wie sich eine kürzere Arbeitszeit auf die Gesellschaft auswirkt. Eine These der Befürworter lautet, dass die Arbeitslosigkeit sinken würde. Was meinen Sie dazu? 

„Wenn wir in Zukunft zwei Personen anstatt eine benötigen, um bei kürzerer Arbeitszeit die Arbeitsmenge zu erledigen würde das wahrscheinlich die Arbeitslosigkeit reduzieren. Wenn es jedoch gleichzeitig einen technologischen Fortschritt gibt, der unsere Produktivität steigert, dann würde sich auch die benötigte Arbeitsmenge reduzieren. Inwieweit also die Einführung einer kürzeren Arbeitswoche die Arbeitslosigkeit verringern würde, ist eine empirische Frage. Und die kann ich nicht beantworten.“ 

Männer gehen Vollzeit arbeiten. Frauen unterbrechen ihren Job wegen der Kinderbetreuung und steigen danach oft nur in Teilzeit wieder ein. Würde eine allgemein kürzere Arbeitszeit das ändern, und zu mehr Gleichberechtigung führen? 

„In einer idealen Welt könnte das tatsächlich so sein. Doch dazu darf nicht nur die Arbeitszeit im Durchschnitt sinken. Wenn wir die Arbeitszeit reduzieren, dann sollten wir es so machen, dass sowohl Männer als auch Frauen dazu gebracht werden, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Um mehr Gleichberechtigung zu erreichen, muss das also klug organisiert werden.“ 

Und wie sieht es mit dem ökologischen Fußabdruck aus? Würde sich der für den Einzelnen durch eine kürzere Wochenarbeitszeit verringern? 

„Das hängt natürlich vom Arbeitszeitmodell ab. Muss ich weniger Stunden am Tag aber immer noch die gleiche Anzahl Tage in der Woche arbeiten, würde sich wahrscheinlich nicht viel ändern. Muss ich aber seltener ins Büro fahren, weil ich zum Beispiel nur vier statt fünf Tage arbeiten gehe, dann verbringe ich auch weniger Zeit im Verkehr. Allerdings dürfen wir dann nicht außer Acht lassen, was wir in der zusätzlichen Freizeit tun. Bleiben wir zu Hause, gehen zu Fuß oder fahren mit dem Fahrrad, dann sparen wir natürlich Benzin. Wenn wir aber die freie Zeit nutzen, und mit dem Auto einen Ausflug mache, dann sparen wir nicht. Hier sehe ich den Nutzen also vor allem in der gewonnenen Zeit, die man nicht mit Pendeln, sondern mit seinen eigenen Interessen füllen kann.“ 

Die Befürworter stellen die Verkürzung der Wochenarbeitszeit verständlicherweise als Königsweg dar, der in vielerlei Hinsicht helfen kann. Das ist einfach nicht wahr. Die Verkürzung ist ein guter Schritt in die richtige Richtung, vorausgesetzt, soziale und ökologische Nachhaltigkeit sind das gesellschaftliche Ziel, das wir verfolgen. Eine Arbeitszeitverkürzung allein wird jedoch nicht ausreichen, um diese Ziele zu erreichen. Der Wandel muss systemisch sein und mit einer Reihe von Veränderungen in der Art und Weise einhergehen, wie moderne Gesellschaften organisiert sind. Wir sind daran gewöhnt zu denken, dass mehr immer besser ist. Wir müssen lernen, unabhängig vom Wachstum ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Ich nenne das Entkopplung von Wachstum und Wohlbefinden. Neben der Verkürzung der Wochenarbeitszeit können wir daher auch über Maßnahmen zur Förderung des Wohlbefindens der Menschen nachdenken, indem wir die sozialen Beziehungen fördern. Das ist ein Aspekt, der für das Wohlbefinden der Menschen sehr wichtig ist, der in den modernen Gesellschaften immer seltener vorkommt und der die Ursache für unsere Unfähigkeit ist, den Verbrauch zu senken und die Umwelt zu schützen. 

Sie sagten vorhin schon, dass immer mehr monotone Arbeiten automatisiert wird. Und spätestens seit ChatGPT könnte das wohl auch auf kreative Jobs zutreffen. Führen neue Technologien also dazu, dass wir in Zukunft ohnehin weniger arbeiten müssen? 

„Das ist eine schwierige Frage. Die traditionelle Wirtschaftswissenschaft geht davon aus, dass wir die dank technologischer Innovationen erzielten Produktivitätsgewinne nutzen sollten, um mehr zu produzieren und mehr Geld zu verdienen. Die Arbeitslast würde dann nicht sinken, denn wir würden einfach mehr Werte, Waren und Dienstleistungen erschaffen. Glücksstudien legen jedoch nahe, dass es uns in Europa besser gehen könnte, wenn wir diesen technologischen Wandel nutzen würden, um weniger zu arbeiten. Denn wie viel mehr Waren und Dienstleistungen können wir letztendlich konsumieren? Und ist es überhaupt möglich, dass unser Planet ein neues Produktions- und Konsumniveau verträgt? Aktuell deuten alle verfügbaren Beweise darauf hin, dass das Wirtschaftswachstum mit einer Zunahme der Rohstoffentnahme aus der Erde verbunden ist. Wie lange können wir so weitermachen? Das ist nicht nachhaltig. Würden wir uns aber vom Modell des steten Wirtschaftswachstums abwenden und unser Produktionsniveau unverändert lassen, könnten wir durch Senkung der Arbeitszeit ein glückliches Leben führen. Wir würden dann dasselbe Niveau an Waren und Dienstleistungen genießen, aber mit weniger Aufwand.“ 

Was denken Sie, wie kürzere Arbeitszeiten in Luxemburg aber auch in anderen Ländern Europas umgesetzt werden könnten? 

„Ich würde einen vorsichtigen Ansatz wählen und versuchen, es in einigen spezifischen Sektoren oder in begrenzten geografischen Regionen einzuführen. So können wir sehen, wie es läuft. Anschließend können wir die kürzere Arbeitszeit dann in großem Maßstab international einführen. Außerdem würde ich wahrscheinlich eine Auswahl verschiedener Arbeitgeber treffen. Eine Mischung von großen Unternehmen, kleinen Unternehmen und öffentliche Einrichtungen. Und dann würde ich experimentieren. Denn nicht jedes Modell passt nicht für alle optimal. In verschiedenen Einrichtungen können unterschiedliche Hindernisse auftreten. Deshalb wäre es eine sehr gute Idee, mehrere solcher Experimente in Luxemburg durchzuführen und daraus zu lernen.“ 

Welchen Satz würden Sie dem Leser noch mit auf den Weg geben?  

„Ich glaube, für unser Wohlbefinden und für unsere Gesellschaft ist es besser, wenn wir mehr Freizeit haben. Das führt zu einer Gesellschaft, in der Geld eine weniger zentrale Rolle im Leben der Menschen spielt.“ 

Das Interview führte Kai Dürfeld (scienceRELATIONS) 
Redaktion: Lucie Zeches, Michèle Weber (FNR) 
Foto: Francesco Sarracino 

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