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Die grundlegende Methode, nach der Historiker arbeiten, ist etwa 150 Jahre alt: die Hermeneutik. „Hermeneutik ist das Nachdenken darüber, wie Wissen zustande kommt und wie es plausibel vermittelt werden kann“, sagt der Historiker Prof. Andreas Fickers, Leiter des Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) der Universität Luxemburg: „Dieses Konzept beruht auf der Annahme, dass wir Quellen – meist schriftliche Überlieferungen – auf ihre Echtheit prüfen und im Archiv lesen. Im digitalen Zeitalter ist das eine Vorstellung, die unserer Arbeitsweise nicht mehr gerecht wird.“
Genauso wie die Digitalisierung heute nahezu jeden Aspekt unseres Lebens bestimmt, hat sie auch enormen Einfluss darauf, wie Geisteswissenschaftler Erkenntnisse erzielen. In der Arbeitsweise der Forscher reflektiere sich das aber kaum, so Fickers: „Was uns deshalb in den kommenden 20 Jahren stark beschäftigen wird, ist die Entwicklung einer digitalen Hermeneutik. Wir brauchen ein Update des kritischen Denkens in den Geisteswissenschaften auf das digitale Zeitalter.“
Vier grundlegende Arbeitsschritte unterscheiden Historiker wie Fickers, wenn sie ihren Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis beschreiben: Das Auffinden der Quelle bzw. relevanter Informationen, die Analyse, die kritische Interpretation, und schließlich die Herstellung einer evidenzbasierten Erzählung. „Die Digitalisierung hat einen Einfluss auf alle diese Schritte des Forschungsprozesses“, so Fickers: „Doch wie sich dies auf die Entwicklung neuer historischer Fragestellungen auswirkt, ist augenblicklich völlig offen.“
Des Einfluss des Digitalen beginnt bereits bei der Suche nach Literatur und Quellen, die heutzutage größtenteils mithilfe von Suchmaschinen im Internet passiert. Nicht mehr Handarbeit mit einem Archivinventar oder Bibliothekskatalog bestimmt die Rechercheergebnisse, sondern die Programmierung der Suchmaschine. „Die dabei eingesetzten Algorithmen kennt und versteht kaum ein Historiker“, so Fickers.
Ähnliches gilt für die Art, wie Quellen, sprich „Daten“, in digitalen Archivbeständen vorliegen: Texte und Urkunden, aber auch Tondokumente, Filme oder Kunstwerke werden zunehmend digitalisiert. Das hat Auswirkungen auf die Authentizität, wie Fickers erläutert: „Die Frage nach dem Original, dem heiligen Gral des Historikers früherer Zeiten, stellt sich bei der Arbeit mit Digitalisaten nicht mehr. Stattdessen müssen wir uns Gedanken machen über die Integrität der Daten, die unsere Quelle darstellen. Für eine wissenschaftlich valide Quellenkritik müssen wir verstehen, wie die Daten codiert, indexiert und mit so genannten Metadaten angereichert worden sind. Ohne digitale Quellenkritik geben wir die Kernkompetenz historischen Arbeitens auf.“
Kritisches Hinterfragen fordert Fickers auch, wenn es darum geht, digitale Quellen zu interpretieren und die Interpretationsergebnisse darzustellen: „Wir nutzen digitale Werkzeuge wie Audio- und Videoerkennung oder Text-mining, um in unseren Quellen zu ‚lesen’. Wir setzen Visualisierungswerkzeuge ein, um unsere Erkenntnisse darzustellen, Datenbestände ansprechend aufzubereiten oder historische Zusammenhänge sichtbar zu machen. Die suggerierte Objektivität, die mit diesen Darstellungen von Informationen einhergeht, gilt es zu dekonstruieren. Zur digitalen Hermeneutik gehört deshalb auch eine digitale Werkzeugkritik.“
Fickers Forderung: Die digitalen Werkzeuge, der digital beeinflusste Erkenntnisprozess und die digitale Darstellung von Forschungsergebnissen müssten genau analysiert werden. Es ist Aufgabe des Historikers, sich darüber klar zu werden, was das Digitale mit seiner Arbeitspraxis und seiner Wissensproduktion macht. „Es ist höchste Zeit, die digitale Hermeneutik zu entwickeln und sie zum Standard für die Ausbildung zukünftiger Historiker zu machen“, so Fickers weiter: „Die Sprachen des Historikers waren lange Zeit tote Sprachen wie Latein oder Alt-Griechisch. Der Geschichtswissenschaftler der Zukunft muss neben diesen auch Programmiersprachen verstehen.“
Autor: FNR
Dieser Artikel stammt aus der Serie "Research trends" auf fnr.lu:
Infobox
Die Digitalisierung von Archiven hat starken, noch wenig erforschten Einfluss auf die Arbeit von Historikern und ihre Forschungsergebnisse. Zusätzlich führt sie zu einer Demokratisierung der Geschichtswissenschaften: Jeder Laie kann sich auf die Suche nach den „Wahrheiten“ machen, die in Archiven schlummern. „Das Hochamt des Historikers war immer der Besuch im Archiv. Dort nahm der Archivar ihn an die Hand und führte ihn zu den relevanten Aktenbeständen“, sagt Andreas Fickers: „Heute kann jeder über das Internet in den Beständen stöbern – insofern sie digitalisiert wurden.“ Darin sieht der Leiter des C2DH vor allem eine Chance: „Der erleichterte Zugang zu den Quellen wird zu einer Vervielfältigung von Meinungen über geschichtliche Ereignisse führen. Der professionelle Historiker wird sich die Autorität der Interpretation der Vergangenheit stärker mit anderen teilen müssen.“ Sicherlich eine Herausforderung für die Historiker der digitalen Generation...