Ausländerwahlrecht, Jugendwahlrecht, Limitierung der Mandate: ja oder nein? Die Referendumsdebatte wird emotional geführt. Luc Heuschling, Professor für Verfassungsrecht an der Uni Luxembourg, durchleuchtet die Argumente der Referendumsdebatte aus der Forscherperspektive – im Gespräch mit Jean-Paul Bertemes von science.lu.

Herr Heuschling, als Professor für Verfassungsrecht haben Sie sich mit dem Referendum beschäftigt – und wurden viel in den Medien zitiert. Was können Sie als Forscher mit in die Debatte hineintragen?

Als Wissenschaftler kann ich Objektivität in die Diskussion einbringen. Ich kann die einzelnen Argumente, die in der Diskussion oft ineinandergreifen und sich vermischen, klar abgrenzen, analysieren und auf Stichhaltigkeit überprüfen. Da bei dem Referendum gerade juristische Fragen eine z.T. herausragende Rolle spielen, kann ich als Rechtswissenschaftler auf den aktuellen Stand der Wissenschaft verweisen, aber auch auf die Geschichte, die philosophische Tradition sowie auf Fallbeispiele aus der ganzen Welt. Es geht mir als Forscher also um Weitsichtigkeit und begriffliche Klarheit der Argumentation. Außerdem kann ich neue Argumente liefern, die in der Debatte vergessen wurden oder zu kurz kamen. Was ich als Forscher nicht will und darf: Den Leuten sagen, was sie wählen sollen. 

Besonders emotional wurde ja die Frage des Ausländerwahlrechts diskutiert. Wie bewerten Sie die Argumentation beider Lager?

Ich stelle fest: Das Argument, dass in Luxemburg ein hoher Anteil an Ausländern lebt, wurde von beiden Lagern für ihre Überzeugung genutzt. Die Befürworter des Ja argumentierten mit einem Demokratiedefizit (ein Großteil der hier lebenden Personen darf nicht wählen). Die Befürworter des „nein“ argumentieren, dass im Falle des Ausländerwahlrechts ein Demokratiedefizit entstehen würde (Dann wären die Wähler mit Luxemburger Nationalität irgendwann in der Unterzahl). Wie kann das sein? Betrachtet man das Konzept Demokratie, dann wird in der Regel auf die klassische Definition von Rousseau und Kant verwiesen, auf das Prinzip der zirkulären Autonomie: Diejenigen, die den Gesetzen unterliegen, sollten auch die Autoren derselben sein. Das heißt: Da das Volk den Gesetzen unterliegt, sollte auch das Volk die Gesetze „schreiben“ dürfen. (Im System einer parlamentarischen Demokratie, wählen die Wähler ein Parlament, das für sie stellvertretend Gesetze entwirft).  Das Volk wird hier mit den Leuten, die in dem Land leben, identifiziert. Dies entspricht also der Auffassung der „Ja“-Befürworter. Im Laufe der Modernität wurde jedoch diese Auffassung „national verfärbt“: das Volk ist die Nation, und diese wird, nebst anderen Kriterien, anhand des Kriteriums der Nationalität definiert. Dies entspricht der Auffassung der „Nein“-Befürworter. Jeder sollte sich selber fragen, welcher Auffassung er zustimmt.

Einige Nein-Befürworter befürchten: Wenn das Ausländerwahlrecht eingeführt wird, dann ist die luxemburgische Sprache in Gefahr. Wie sehen Sie das als Forscher?

Ich stelle fest: In unserer Verfassung steht, dass Luxemburg mehrsprachig ist. Nicht nur Luxemburgisch ist „Nationalsprache“ (also Sprache des Staates), sondern auch Deutsch und Französisch. Wenn Ausländer wählen dürfen, dann halte ich es für logisch, dass das Parlament, als Vertretung der Wählerschaft, der mehrsprachigen Realität Rechnung trägt. Dass die Luxemburger sensibel in diesem Punkt reagieren, kann ich nachvollziehen. Gleichzeitig ist die Mehrsprachigkeit jedoch Teil unserer Identität und Kultur.  

Eine weitere Befürchtung: Wenn das aktive Wahlrecht eingeführt wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das passive Wahlrecht nachkommt. Was sagen Sie dazu?

Das wäre für mich aus rechtswissenschaftlicher Perspektive nur logisch, da in einer Demokratie aktives und passives Wahlrecht zwei Seiten derselben Medaille sind. Und also zusammengehören. Aber die Realität ist nicht immer logisch – und muss es auch nicht sein! Beispiele wie Chile, Neuseeland oder Costa Rica zeigen, dass es durchaus gut funktionieren kann, wenn ein Land Ausländern unter gewissen Bedingungen das aktive Wahlrecht zusichert, nicht jedoch das Passive.

Wie revolutionär wäre ein Ja für das Ausländerwahlrecht?

Es wäre insofern revolutionär, da Luxemburg dann in Europa voranschreiten würde. Aber vielleicht wird das eh früher oder später in Europa der Normallfall sein.

Wie meinen Sie das?

Der Kontext Europa wurde meiner Auffassung nach zu wenig in der Debatte berücksichtigt. Wir befinden uns in einem Föderalisierungsprozess. Viele Gesetze werden heute bereits nicht mehr von den Nationalstaaten, sondern von Europa in die Wege geleitet. Das ist eine Realität. Zu meinen, wir würden als Nationalstaat all unsere Entscheidungen selber treffen ist also falsch. Der Vergleich mit Bundesstaaten, wie beispielsweise Deutschland, die Schweiz oder die USA, ist daher besonders angebracht und aufschlussreich. In all diesen Bundesstaaten hat sich in der Vergangenheit die Frage gestellt: Darf z.B. ein Basler Staatsbürger, der in Zürich wohnt, an den Wahlen zum Züricher Kantonalparlament teilnehmen? In der Schweiz wurde diese Frage ab der Gründung des Bundesstaates 1848 mit Ja beantwortet; in anderen Bundestaaten (USA, Deutschland, etc.) kam es, füher oder später, zu dem selben Resultat.

Wenn der Föderalisierungsprozess in Europa weiterschreitet, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Mitglieder des Bundesstaates in dem Land, in dem sie leben, für das Parlament wählen dürfen,  – auch wenn sie nicht die Nationalität dieses Mitgliedstaates haben. Die Frage würde dann eher lauten: Will Luxemburg in dieser Frage voran schreiten?

Bei der Frage zum Wahlrecht der Jugendlichen haben viele Politiker argumentiert, dies sei nicht mit dem Zivilrecht vereinbar. Jugendliche unter 18 seien juristisch nicht verantwortlich, und somit stünde ihnen juristisch das Wahlrecht auch nicht zu. Was meinen Sie dazu?

Dieses Argument ist nicht stichhaltig, denn das Zivilrecht ermöglicht auch jetzt schon Jugendlichen unter 18 in einigen Fällen, wie Erwachsene handeln zu dürfen. Ein 12-Jähriger darf z.B. selber ein Konto aufmachen. Wenn ein 16-Jähriger bei den Eltern zuhause rausfliegt und arbeiten gehen muss, darf er, nach einer „Procédure d’émancipation“ selber einen Arbeitsvertrag unterschreiben, ohne die Unterschrift der Eltern. Auch strafrechtlich werden Jugendliche unter 18 in gewissen Fällen wie Erwachsene behandelt.

Für mich stellt sich einzig und allein die Frage nach der intellektuellen Fähigkeit des einzelnen Jugendlichen, auf eine Referendumsfrage eine wohlüberlegte Antwort zu geben. Und diese Frage kann ich als Rechtswissenschaftler nicht beurteilen. Da müssen sie Psychologen fragen.

Und was sagen Sie als Forscher zur Frage der Limitierung der Mandate? Einige behaupten, Politiker könnten dann besser auch unpopuläre Entscheidungen treffen, da sie sich nicht mehr drum sorgen müssen, wiedergewählt zu werden. Auch könnten Politiker nicht mehr über Jahrzehnte hinweg einen solch hohen Bekanntheitsgrad erlangen, dass sie allein aufgrund dieser Bekanntheit immer wieder gewählt werden.

Hierzu kann ich nur sagen: Das ist die Frage mit den meisten Fragezeichen für mich als Verfassungsrechtswissenschaftler. Es gibt kein Beispiel eines parlamentarischen Systems in der Welt, wo dies stattgefunden hat. Außer in Andorra (zu dessen Praxis, soweit mir ersichtlich, noch keine Literatur besteht) und Thailand, wo es jedoch nie so weit kam, weil die Verfassung von 2007 per Staatsstreich 2014 abgeschafftt wurde. Es ist also ein Schritt ins Unbekannte.

Ich kann nur Hypothesen aufstellen und Fragen in den Raum stellen. Was macht der Minister nach 10 Jahren? Geht er/sie in die Wirtschaft? Sein gutes Recht. Das wird  jedoch bestimmt nicht nach jedermanns Geschmack sein. Die Gefahr besteht, dass er noch während seiner politischen Karriere seine spätere Wirtschaftskarriere in die Wege leitet. Wenn der Minister jedoch in der Politik bleibt, z.B. als Parlamentarier: Dann besteht unter Umständen die Gefahr, dass sich „russische Verhältnisse“ etablieren. Dass der Politiker einen Minister in der Regierung platziert, aber in Wirklichkeit noch immer er oder sie die Fäden zieht. Aber das alles sind nur Hypothesen. Es ist wie gesagt ein Schritt ins Unbekannte.

Sie waren im März im Land unterwegs, um mit der Bevölkerung über die Referendumsfragen zu diskutieren. Hatten Sie nicht Angst, dass ihre Argumente für die eine oder andere Seite instrumentalisiert werden?

Es ist legitim, dass meine Argumente von beiden Lagern genutzt werden. Mein Job als Forscher ist es ja nicht, den Menschen zu sagen was sie wählen sollen, sondern nur sachliche und fachlich korrekte Argumente aus Forscherperspektive zu liefern – für die Wähler, für die Politiker. Ich mag es aber tatsächlich nicht, wenn ich instrumentalisiert werde. So hieß es z.B. irgendwann in der Frage des Ausländerwahlrechts, meine Aussagen würden klar zeigen, dass ich für das Nein stimmen würde. In Wirklichkeit habe ich aber sowohl Argumente dafür als auch dagegen geliefert, bzw. können meine Argumente auch unterschiedlich politisch interpretiert werden.

Und was wählen Sie denn am Sonntag?

In der Frage des Ausländerwahlrechts stimme ich mit Ja. Ich sage dies nur, damit es nicht möglich ist, mich für das Nein zu instrumentalisieren. Meine persönliche Wahl soll aber niemanden beeinflussen. Jeder hat das Recht, sich selber seine Meinung zu bilden und dementsprechend zu wählen. Jeder hat auch das Recht, meine Argumente so zu interpretieren, wie er es für richtig hält, solange meine Argumente faktisch korrekt dargestellt werden – was in der Regel der Fall war. Zu den anderen Fragen will ich mich nicht äußern. Das ist Privatsache.

Herr Professor Heuschling, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Jean-Paul Bertemes

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