Europa und die Europäer – das ist die Story einer Distanz-Beziehung, in der sich die Partner entzweit haben. Raphaël Kies von der Universität Luxemburg hat ein Buch herausgegeben, das Kommunikationsdefizite als Haupt-Beziehungskiller ausmacht.

„Die in Brüssel“ und „wir kleinen Bürger“: das sind gerne verwendeten Worthülsen, wenn es um Europa geht – ob in Real-Life-Diskussionen oder in Web 2.0-Foren. All das trägt Züge einer lange schwelenden Beziehungskrise, in der man auf Fehler des anderen wartet, um sich dann bei Dritten zu beschweren. Nach Meinung von Raphaël Kies, der an der Universität Luxemburg zum Thema politische Beteiligung forscht, ist es in der Tat vor allem mangelnde direkte Kommunikation, die derlei Distanz verursacht hat. 

Europa will sprechen – aber der Bürger weiß nichts davon

Dass zwischen den politischen Verantwortlichen in Europa und den Bürgern zurzeit ein Graben liegt, der deutlich breiter ist als das Moseltal, stellt auch Raphaël Kies nicht in Frage. In dem Buch „Is Europe Listening to us?“, das der Politikwissenschaftler mit seiner Bremer Kollegin Patrizia Nanz herausgegeben hat, herrscht jedoch ein geistiges Klima, dass auch in der wissenschaftlichen Literatur zum Thema eher selten ist: Objektiv wird analysiert, was in der Bürgerkommunikation schief läuft – auf beiden Seiten.

Dabei geht es verkürzt gesagt in der Tat zu wie in einer Beziehung, in der sich die Partner auseinandergelebt haben. Der eine – Europa – bietet sehr wohl Kommunikation an, welche der andere – der Bürger – allerdings nicht wahrnimmt. Anders gesagt: Die wenigsten werden von Euro-Polis, IdealEU oder Citizen’s Agora (siehe Infobox) gehört haben, und genau hier liegt das Beziehungsdrama. Angebote, welche die EU ihren Bürgern zu Diskussion und Einflussnahme macht, verpuffen mangels Kommunikation.

Desinteresse des nur indirekt vertretenen Bürgers

Allerdings, so erläutert Raphaël Kies, ist die Beziehungskrise das Resultat eines langwierigen Entzweiungsprozesses auf beiden Seiten: „Die Schuld nur in Brüssel zu suchen, wäre etwas zu einfach, man muss auch eine gewisse politische Unkenntnis und  vor allem Desinteresse auf Seiten der Bürger konstatieren“, so der Politikwissenschaftler im Gespräch. Freilich habe Europa auch von Anfang an unter einem Legitimationsdefizit gelitten, will meinen: Lange sei Volkes Meinung in Brüssel nur bedingt vertreten worden.

So habe das europäische Parlament lange ein einflussarmes Schattendasein geführt, ehe es dann – sehr spät – aufgewertet wurde. Danach habe man versucht, die Bürger indirekt über den Dialog mit Interessens-Gruppen an Europa zu beteiligen, und erst, als auch dieser Schuss verpuffte, habe man die genannten Dialogangebote im Real Life und im virtuellen Raum gestartet. Letztere seien lobenswerte Initiativen, denen es, so Raphaël Kies, allerdings an Konsequenz und Akzeptanz – kurz: Bekanntheit – mangelt.

Perspektive: Glaubwürdiges Europa, das Bürger permanent erreicht und überzeugt

Und wie wird es weiter gehen? Steht die Scheidung unmittelbar bevor, wird die Liaison EU/Bürger zu einer dauerhaften Zweckgemeinschaft – oder hält gar die Liebe wieder Einzug im Haus Europa? Im Buch plädoyiert Raphaël Kies für eine nachhaltige und permanente Kommunikation. Im Gespräch fügt er noch an: „Auch charismatische und glaubwürdige Köpfe könnten zu einem gelebten Europa beitragen.“ Gelebt von der EU und von den Bürgern.  So oder so brauche (mehr) Europa (mehr) Dialog und Nähe.

Autor: Sven Hauser

Infobox

Europa und der Dialog mit den Bürgern

Mit Initiativen wie Euro-Polis, IdealEU oder Citizen’s Agora will die EU Bürger in das Projekt Europa mit einbinden. Dies geschieht in Veranstaltungen vor Ort oder per Online-Dialog. Raphaël Kies, dessen Forschungsthema Bürgerbeteiligung an Politik ist, konstatiert, dass solche Initiativen mangels Kommunikation nur diejenigen erreichen, die sich für Europa interessieren.

 

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