(C) Andreas Fickers

Digitalisierung, Datenflut, (un)verlässliche Quellen: Der Historiker Andreas Fickers erläutert die Herausforderungen der modernen Geschichtsschreibung.

Herr Professor Fickers, die Digitalisierung schreitet voran. Nutzen Sie als Historiker inzwischen auch YouTube als Quelle?

YouTube ist problematisch, denn die Informationen dort sind nicht mit Metadaten, also den Basisinformationen versehen. Zwar findet man häufig eine interessante Quelle, aber man weiß nicht: wo wurde das Video gemacht? Wann wurde es gemacht und von wem? Das Zauberwort lautet: Metadaten! Denn ohne diese kann man keine professionelle Geschichtswissenschaft betreiben.

Welche digitalen Quellen nutzen Sie stattdessen?

Für meine medienhistorische Forschung etwa jene aus großen Digitalisierungsprojekten wie „EUscreen“, in denen audiovisuelle Quellen aus über 25 europäischen Rundfunkarchiven präsentiert werden. Anders als bei Youtube werden die Quellen hier nach einem standardisierten Verfahren beschrieben, welches für die historische Forschung unumgängliche Informationen enthält: wie zum Beispiel zum Sendetermin, zu den Produzenten oder zum technischen Format. All dies fehlt bei YouTube.

Wie wirkt sich die Digitalisierung auf Ihre Arbeit als Historiker aus?

Sehr stark! Denken Sie etwa an den Zugang zu Quellen durch die massive Digitalisierung von Quellenbeständen und deren Online-Verfügbarkeit: Wir werden heute von digitalen Quellen überflutet und müssen ganz neue Suchstrategien entwickeln. Man muss vor allem verstehen, wie die Suchmaschinen funktionieren, denn davon hängt es ganz wesentlich ab, welche Resultate man findet – ansonsten arbeitet man mit einer Blackbox.

Wie können Sie angesichts dieser Datenflut sichergehen, dass die Quellen verlässlich sind?

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wir brauchten eine digitale Quellenkritik, denn einerseits forschen wir noch auf traditionelle Art und Weise, andererseits nutzen wir digitale Werkzeuge und Datenbanken. Diese Hybridität stellt uns vor neue Herausforderungen. Darum arbeiten wir daran, ein Online-Tutorial für digitale Quellenkritik zu entwickeln, das verschiedene Probleme deutlich macht und zeigt was es heißt, mit digitalen Quellen zu arbeiten.

Was braucht es konkret?

Ich träume davon, dass es in Zukunft ein Protokoll gibt, was quasi an die Digitalisate geheftet ist und in dem man die vielfältigen Eingriffe in Prozess der Digitalisierung einer Quelle nachvollziehen kann: Wann kam sie ins Archiv? Wo kam sie her? Mit welchem Programm und Standard wurde sie gescannt oder – im Falle einer „digital born“ Quelle – produziert? Mit welchen Metadaten wurde sie angereichert? Das würde bedeuten, die ganze Frage der Überlieferung oder Provenienz auch auf das Digitale zu übertragen. Davon sind wir aber noch weit entfernt.

Hat sich die frühere methodische Arbeit des Historikers inzwischen erübrigt?

Natürlich nicht. Wenn man Informationen gefunden hat geht es, auch bei digitalen Quellen, darum, diese zu kontextualisieren und zu interpretieren – dies gehört zum klassischen Handwerkszeug des Historikers. Vor diesem Schritt gilt es aber, die Authentizität von Quellen zu prüfen – hier stellt uns die Digitalisierung vor neue Herausforderungen. Statt um Fragen der Originalität von Quellen geht es nun vielmehr um Fragen der Datenintegrität.

Autor: Tim Haarmann
Foto: (C) Andreas Fickers

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Kurzbiographie

Andreas Fickers ist Professor für Zeitgeschichte und digitale Geschichtswissenschaft an der Universität Luxemburg. Der Historiker hat an den Universitäten Aachen und Reims Geschichte, Philosophie und Soziologie studiert und unter anderem im technischen Museum München gearbeitet sowie an den Universitäten von Utrecht und Maastricht gelehrt. Schwerpunkte seiner Forschung sind zeitgenössische und digitale Geschichte, europäische und transnationale Geschichte, Mediengeschichte und Kulturgeschichte der Technik. Im Juni 2016 wurde er zum Direktor des Instituts für Zeitgeschichte ernannt, dem neuen interdisziplinären Forschungszentrum der Uni Luxemburg. 

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