Es gilt als allgemein anerkannt, dass Ballaststoffe zu einer gesunden Ernährung dazugehören. Früher haben die Menschen davon auch reichlich gegessen, bis zu 100 Gramm pro Tag. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Anteil allerdings auf dramatische Weise verringert. Was vor allem daran liegt, dass wir mehr Fertigprodukte zu uns nehmen und sich unser Lebensstil verändert hat. Als Folge ist eine Zunahme von entzündlichen Darmerkrankungen, Darmkrebs und anderen Erkrankungen des Verdauungstraktes zu beobachten. Doch woran liegt das?
Bakterien greifen Darmschleimhaut an
Um diese Frage zu beantworten, führten Dr. Desai , Leiter der Arbeitsgruppe für Öko-Immunologie und Mikrobiomforschung am Luxembourg Institute of Health (LIH) und Dr. Eric Martens von der medizinischen Fakultät der Universität Michigan in den USA eine Studie durch. Eine Studie, die die Funktionen des menschlichen Verdauungstraktes simulierte, indem die Wissenschaftler Mäuse untersuchten, die ohne eigene Darmmikroben geboren und aufgezogen wurden. Diesen sogenannten gnotobiotischen Mäusen wurde ein Transplantat mit einem Cocktail aus 14 Bakterien eingesetzt, die normalerweise im gesunden menschlichen Verdauungstrakt vorkommen. Danach wurden die Aktivitäten der Bakterien im Zeitverlauf beobachtet. Diese Versuche erlauben den Forschern das Benehmen bestimmter Bakterien in einem lebenden Organismus unter kontrollierten Bedingungen zu untersuchen.
Indem sie manchen Mäusen eine ballaststoffreiche und anderen eine ballaststoffarme Diät verordneten, konnten die Wissenschaftler beobachten, dass die Bakterien, die keine Ballaststoffe erhielten, eine Überlebensstrategie entwickelten, durch die sie den Mangel an Ballaststoffen zu ersetzen versuchten. Sie begannen, die Schleimhaut, die den Darm der Mäuse innen auskleidet und die erste Verteidigungslinie gegen externe Aggressoren bildet, anzugreifen.
Erosion der Schleimschicht auch bei präbiotischen Nahrungsergänzungsmitteln
„Wir haben einen Mechanismus gefunden, mit dem ein reduzierter Verbrauch von Ballaststoffen einige unserer freundlichen Darmbakterien sehr, sehr wütend macht“, so Dr. Desai, der Hauptautor der Studie. Die Wissenschaftler probierten außerdem eine Diätvariante für die Mäuse aus, die weder Obst noch Gemüse enthielt, aber mit konventionellen präbiotischen Nahrungsergänzungsmitteln angereichert wurde. Präbiotika sind Nahrungsergänzungsmittel, die Nährstoffe für bestimmte, bereits im Darm vorhandenen gesundheitsfördernden Bakterienstämme enthalten. Bei dieser Variante war eine ähnliche Erosion der Schleimschicht zu beobachten wie bei der ballaststoffarmen Diät ohne präbiotische Ergänzung.
„Diese faszinierenden Ergebnisse bilden eine Basis, um präbiotische Nahrungsergänzungsmittel der nächsten Generation zu entwickeln, die in Ernährungstherapien eingesetzt werden können und die Mikrobenflora im menschlichen Darm beeinflussen. Sie könnten so dabei helfen, Darmerkrankungen zu behandeln beziehungsweise zu ihr Entstehen verhindern“, erklärt Prof. Dr. Markus Ollert, Leiter des Departments für Infektionen und Immunität am Luxembourg Institute of Health (LIH).
Suche nach Biomarkern als nächster Schritt
Im nächsten Schritt wollen Dr. Desai und Dr. Martens sich auf die Suche nach Biomarkern machen, die ihnen mehr über den Zustand der Schleimschicht im menschlichen Verdauungstrakt sagen können – wie zum Beispiel die Häufigkeit von schleimabbauenden Bakterienstämmen und die Auswirkungen einer ballaststoffarmen Diät auf entzündliche Darmerkrankungen, Darmkrebs und andere Erkrankungen des Verdauungstraktes. „Auch wenn diese Studie bei Mäusen durchgeführt wurde, bestätigt sie doch eindrucksvoll, was Ärzte und Ernährungswissenschaftler schon seit Ewigkeiten predigen: Esst viel Ballaststoffe aus verschiedenen natürlichen Quellen“, sagt Dr. Eric Martens.
Die Ergebnisse der Studie, die hauptsächlich vom FNR und dem LIH finanziert wurde, ist in der renommierten Fachzeitschrift Cell veröffentlicht worden. Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit der der Universität Luxemburg, der medizinischen Fakultät der Universität Washington und der Universität von Aix-Marseille durchgeführt.
Autor: LIH
Foto © LIH (Eine dicke Schleimschicht, die von Zellen der Darmwand produziert wird, schützt gegen aggressive Erreger. Dieses Bild wurde mit einem Mikroskop gemacht und zeigt einen Schnitt durch den Darm einer Maus. Zu sehen ist die Schleimschicht (grün) und die sogenannten "goblet"-Zellen (blau), die die Schleimschicht produzieren.)
Infobox
Probiotika bezeichnen Nahrungsergänzungsmittel, die gesundheitsfördernde Bakterienstämme enthalten, wie z.B. Milchsäurebakterien (Lactobacilli). Präbiotika hingegen bezeichnen Nahrungsergänzungsmittel, die Nährstoffe für die bereits im Darm vorhandenen gesundheitsfördernden Bakterien enthalten, und somit deren Wachstum und Vermehrung unterstützen.
Die Studie zeigt, dass die Schleimschicht im Darm dünner wird, wenn die Mäuse weniger Ballaststoffe erhalten. Auch wenn der Schleim in einem normal funktionierenden Darm ständig nachproduziert und wieder abgebaut wird, bedeutete die Veränderung der Bakterienaktivität unter der höchsten Stufe des Ballaststoffentzugs, dass die Geschwindigkeit, mit der die Bakterien die Schleimschicht auffraßen, höher war als die Geschwindigkeit, mit der mehr Schleim produziert werden konnte. Vergleichen kann man diesen Raubbau vielleicht mit der Abholzung eines Waldes, der nicht schnell genug durch nachgepflanzte Bäume ersetzt werden kann. Die Schleimschicht wird sogar so weit erodiert, dass gefährliche Bakterien von außen eindringen und zu schweren Entzündungen der Darmwand führen können.