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Der Schulunterricht findet auch die nächsten Wochen nur zuhause statt

Wer es kann oder muss, macht in diesen Wochen Home-Office. Die Forscher und Lehrenden der Uni Luxemburg bilden da keine Ausnahme. Science.lu hat drei von ihnen aus ihrem Home-Office heraus um eine Einschätzung der aktuellen Situation gebeten: die Neurowissenschaftlerin Christine Schiltz, den Psychologie- und Pädagogikwissenschaftler Robert Reuter und den Bildungswissenschaftler Antoine Fischbach. Aufgrund der Corona-Krise sind die Schulen seit Mitte März geschlossen. Für die Schüler ist seitdem Home-Schooling angesagt. Wie die Regierung nun verkündet hat, soll es dabei auch mindestens bis zum 4. Mai bleiben. Möglicherweise aber wird auch das nicht reichen.

 

Welche Folgen hätte es, wenn die Schulen nicht nur bis zum 4. Mai, sondern vielleicht sogar bis Ende des Schuljahres geschlossen blieben?

 

Christine Schiltz: Es ist schwierig, das vorherzusagen, und von Fall zu Fall auch unterschiedlich. Für gute Schüler aus privilegierten Verhältnissen und mit Lehrern, die gut mit dem digitalen Lehren und Lernen klarkommen, wäre es schulisch gesehen wahrscheinlich nicht ganz so wichtig, wann genau die Schule wieder normal weitergeht. Für Kinder aus benachteiligten sozioökonomischen Verhältnissen und für Kinder mit Lernschwierigkeiten oder spezifischen Lernstörungen jedoch wird sich der Rückstand gegenüber anderen mit zunehmender Dauer immer stärker ausprägen.  Und er wird somit auch nachher immer schwieriger zu kompensieren sein. Hinzu kommt natürlich auch, dass die Auswirkungen in schulischen Schlüsselmomenten, wie etwa der sechsten Klasse oder den Orientierungsjahren, besonders tiefgreifend und weitgreifend sind. Aus sozial-emotionaler Perspektive gilt generell: Je kürzer, desto besser. Und das auch unabhängig vom kognitiven Profil des Kindes und dessen sozioökonomischen Hintergrund. 

 

Wäre es unter Umständen nicht sinnvoll, das Schuljahr zu wiederholen?

 

Antoine Fischbach: Ich glaube, das Schuljahr zu wiederholen ist keine Option. Man muss sich möglichst auf das konzentrieren, was essenziell ist. Und das ist ja auch das, was jetzt von der Regierung angekündigt wurde: Dass man schaut, was prioritär zu behandeln ist und auf was man notfalls verzichten kann. Bei Fächern wie Mathematik ist es wahrscheinlich schwierig, etwas wegzulassen, weil Mathematikwissen hierarchisch aufeinander aufbaut. Ob ich mich jetzt aber in Naturwissenschaften mit dem Igel befasse oder aber nicht, ist für alles weitere, was danach kommt, eher irrelevant; nichts gegen Igel.

 

Wäre eine Verkürzung der Sommerferien eine Option, um den verpassten Unterrichtsstoff nachzuholen?

 

Christine Schiltz: Wenn man sicherstellen könnte, dass keine Familien durch dieses Szenario um ihre gemeinsamen Sommerferien mit den Kindern gebracht würden, dann könnte ich mir vorstellen, dass ein Schulbeginn eine Woche früher eventuell eine interessante Variante sein könnte. Dies würde den Lehrern zusätzliche Zeit zur Wiederholung und Aufarbeitung der Inhalte des Vorjahres geben. Tatsächlich sind die Sommerferien in Luxemburg insgesamt sehr lang, und ein Erholungseffekt wäre sicher auch mit sieben anstelle der üblichen acht Wochen erzielt. 

Genügend Erholung hat aber höchste Priorität, da Ermüdung dem effizienten Lernen im Endeffekt nur schadet.  Deshalb würde ich auch unter keinen Umständen das jetzige Schuljahr verlängern. Durch die Covid-19-Krise entstehen nämlich zurzeit massive Zusatzbelastungen für alle Akteure, sowohl durch die ungewohnte schulische Situation als auch durch die vielen schwierigen und traurigen Ereignisse, die sich derzeit im direkten oder indirekten Umfeld der Kinder abspielen. Dies zerrt an den Kräften und Ressourcen. Und eine direkte Verlängerung der Anstrengung wäre lerntechnisch sicher falsch und kontraproduktiv. 

 

Was ist sinnvoller: Dafür zu sorgen, dass der verpasste Lehrstoff möglichst komplett nachgeholt wird, oder aber sich damit abfinden, dass gewisse Unterrichtsinhalte auf der Strecke bleiben? 

 

Robert Reuter: Wenn bei den Schülern keine Defizite bleiben sollen, führt kein Weg daran vorbei, etwas Zeit dranzuhängen. Das Problem ist, dass wir nach hinten raus eine Deadline haben. Und der Versuch, das Versäumte möglichst schnell aufzuholen, wird meiner Meinung nach nicht funktionieren. Oder anders formuliert: Zu glauben, dass man trotz des Zeitverlusts am Ende den gleichen Stand hat, ist völlig illusorisch. Wenn jemand ein halbes Jahr krank ist, hat er ja auch nicht automatisch das Recht auf ein Diplom. Es reicht letztlich nicht, nur einen guten Grund zu haben, warum wir das Lernen jetzt aussetzen müssen. Ich denke, es hängt von der Perspektive ab. Ob es also um Scheine und um Zertifizierung geht, oder aber um tatsächlich erlerntes Wissen. 

Christine Schiltz: Ich glaube, dass es nicht sinnvoll ist den verpassten Lehrstoff auf jeden Fall nachholen zu wollen, da dies in den meisten Fällen nur sehr begrenzt bis gar nicht möglich sein wird – allein schon durch Einschränkungen kognitiver Natur und allgemeiner Belastbarkeit. Dazu muss man auch bedenken, dass diese Situation durch ihre Neuheit und Globalität für uns alle, inklusive der Kinder und Jugendlichen, auch sehr viel Neues bringt. Sodass hiermit ein Teil des Lehrstoff-Verlustes wahrscheinlich auch kompensiert wird. 

 

Sollten Kinder den Schulstoff grundsätzlich zu Hause nacharbeiten oder ist es gerade bei einer längeren Quarantäne nicht besser, die Kinder jetzt nicht noch zusätzlich mit Schularbeiten zu „bestrafen“? 

 

Christine Schiltz: Durch die zusätzliche Belastung, sowohl für die Schüler wie für die Lehrer, scheint es weder zielführend noch realistisch, den Schulstoff zu Hause komplett nachzuarbeiten. Schule hat genau dieses Ziel: Schüler beim Lernen helfen! Lehrer sind Profis in dieser Aufgabe, wenn sie in der normalen schulischen Umgebung stattfindet. Nun aber gibt es weder Schule noch Lehrer, die physisch präsent sind und somit die Lernumgebung der Kinder so gut wie möglich gestalten. 

Da die aktuelle Home-Schooling Situation sehr plötzlich und überraschend kam und digitales Lehren und Lernen aktuell noch nicht zu dem pädagogischen Alltag zählt, können Lehrer leider in der aktuellen Situation ihre Expertise nicht so einsetzen wie im normalen schulischen Alltag. Dies führt dazu, dass sie sehr viel mehr Zeit und Energie aufbringen müssen. Parallel müssen auch die Kinder mit vielen zusätzlichen Herausforderungen kämpfen, um das klassische schulische Lernen in dem Griff zu bekommen. Sie müssen zum Beispiel viel Disziplin und Motivation aufbringen. Dies fällt oft den Kindern besonders schwer, die auch schon in der Schule mit der Konzentration kämpfen und/oder eine spezifische Lernstörung haben. 

Robert Reuter: Die Kinder jetzt komplett von Schulaktivitäten zu befreien, fände ich allein schon aus bildungspolitischer Sicht recht problematisch. Kinder haben schließlich ein Recht auf Bildung. Natürlich wirkt die Quarantäne wie eine Bestrafung, fast wie ein Gefängnis. Aber auch dort wird den Menschen ermöglicht, sich weiterzubilden. Und diese Möglichkeit sollten wir den Schülern nicht nehmen, auch wenn viele Kinder das vielleicht als weniger problematisch sehen.

 

Wie wichtig ist es, dass die Kinder auch während der Quarantäne einen strukturierten Tagesablauf haben?

 

Robert Reuter: Ich denke schon, dass es sinnvoll ist, dass Kinder einen strukturierten Alltag haben. Zumal es auch wichtig ist, die Illusion einer „Bildung as usual“ am Leben zu halten. Damit die Kinder auch verstehen, dass sie nicht zu Hause sind, um mehr Zeit zum Spielen zu haben. 

Christine Schiltz: Ein strukturierter Tagesablauf ist ohne Zweifel wichtig, um den Kindern zu helfen, ihre mentale Energie zu organisieren. Eine der großen Entwicklungen vom Kind bis zum Erwachsenen betrifft die Fähigkeit, komplexere Handlungen zu organisieren und zu planen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, seine eigenen Handlungen und Denkprozesse zu kontrollieren, wenn es notwendig ist, und sich nicht vom Ziel ablenken zu lassen. Ein strukturierter Tagesablauf erlaubt den Kindern, ihre mentale Energie zum Verarbeiten ihrer Schulaufgaben einzusetzen, wenn es Zeit zum Arbeiten ist, und andererseits die Batterien wieder aufzuladen, wenn Spiel- und Pausenzeit ist. 

Die derzeitige Situation ist für alle Beteiligten eine Herausforderung

Was bewirkt die Quarantäne bei der ohnehin schon vorhandenen Unterschieden, was den sozioökonomischen Hintergrund der Schüler betrifft? Werden diese Ungleichheiten dadurch noch weiter verschärft? 

 

Christine Schiltz: Die sozioökonomischen Disparitäten werden stark durch diese Form von kurzfristig aufgezwungenem Home-Schooling verstärkt. Es beginnt mit Unterschieden im Zugriff auf digitales Material wie Rechner, Drucker oder einen stabilen Internetanschluss. Hinzu kommt der physische Kontext, der es nicht jedem ermöglicht,  an einem ruhigen Ort zu arbeiten oder aber sich während der Pausen im Garten auszutoben. Außerdem spielen natürlich auch die Disponibilität und Ausbildung der Eltern beim Home-Schooling eine viel wichtigere Rolle als in der Schule. Hier zählt nicht nur Möglichkeit, den Kindern bei Fragen zu den Schulinhalten weiterzuhelfen, sondern auch die Strukturierung und allgemeine Unterstützung der Kinder beim Home-Schooling. 

Antoine Fischbach: Die Schule versucht ja, genau wie auch die non-formalen Bildungsstrukturen, die Disparitäten zum Teil auszugleichen. Tatsache ist, dass Schule und Eltern grundsätzlich, aber eben auch spezifisch, wenn es um bestmögliche Bildungschancen für jedes einzelne Kind geht, eigentlich Partner sein sollten. Diese Zusammenarbeit funktioniert manchmal sehr gut und manchmal eben nicht. Und wir sind jetzt in einer Lage, wo es einfach funktionieren muss. Vielleicht hat diese Situation ja auch den nachhaltigen Effekt, dass sich Eltern zukünftig mehr für das interessieren, was in der Schule passiert, und im Gegenzug die Schule Eltern auch eher teilhaben lässt.  

 

Was wäre, wenn wir in dieser Situation vor 20 oder 30 Jahren gewesen wären, wir also kein Zugang zum Internet gehabt hätten? 

 

Robert Reuter: Dann hätte man sich damit abfinden müssen, dass wir keine Schule haben. Oder wir hätten klassischen Fernunterricht gemacht, wie es das früher beispielsweise mit dem Telekolleg im Fernsehen gab. Und bereits vor 100 Jahren gab es auch schon den Traum vom Bildungsradio. Wenn alle Stricke reißen würden, wäre Bildungsradio sicher noch eine Option. Wobei das dann auch nur nach dem Top-Down-Prinzip funktionieren würde und deshalb auch nicht ideal wäre. Genauso wenig wie das Telekolleg. Das hatte sicher seinen Platz in der Gesellschaft, weil man es damals nicht anders kannte.  Wobei: Bildung auf Distanz ja nichts neues ist, sondern bereits seit 500 Jahren, seit der Erfindung des Buchdrucks möglich ist. 

Antoine Fischbach: Natürlich hat uns das Internet ganz neue Möglichkeiten eröffnet, mit einer solchen Situation umzugehen. Gleichzeitig haben die Eltern heute insgesamt einen weitaus höheren Bildungsstand als es noch vor 30 Jahren der Fall war. Für einen Großteil der Eltern wäre die Situation, die wir jetzt Hause haben, damals vielleicht ein weitaus größere Herausforderung gewesen.

 

Ist damit zu rechnen, dass der Unterrichtsausfall auch langfristige Folgen haben wird, die sich dann beispielsweise in Bildungsstudien (wie zum Beispiel PISA) niederschlagen werden?

 

Antoine Fischbach: Es wird mit Sicherheit einen Impact haben. Interessant wird in diesem Zusammenhang die Frage sein, wo sich dieser Einfluss insgesamt am stärksten bemerkbar macht: Wenn die Schüler am Anfang ihrer Schulkarriere stehen, in der Mitte oder am Ende? Im internationalen Vergleich wird das aber meiner persönlichen Einschätzung nach allein schon aufgrund der unterschiedlichen Schulsysteme eine eher untergeordnete Rolle spielen.

Hier in Luxemburg führen wir ja jedes Jahr unser nationales Schulmonitoring ÉpStan (www.epstan.lu) in allen ersten, dritten, fünften, siebten und neunten Klassen durch. Das nächste ist im November. Einen möglichen Corona-Effekt werden wir also auch ohne zusätzliche Untersuchungen spätestens in einem Jahr, wenn wir die Daten alle ausgewertet haben, erkennen können. Dass Corona Auswirkungen haben wird, davon muss man ausgehen. Welche Form dieser Effekt genau annehmen wird und von welchem Ausmaß wir sprechen, ist derzeit aber noch nicht abschätzbar. Hier sollen die Daten sprechen.

 

Hat die derzeitige Situation für die weitere Entwicklung des Schulsystems am Ende auch etwas Gutes?

 

Antoine Fischbach: Die Krise an sich hat natürlich nichts positives, sie ist absolut dramatisch. Aber ich glaube, wir sollten am Ende darauf achten, dass wir auch die positiven Erfahrungen aus dieser Lage mitnehmen.  Ich persönlich bin hochgradig beeindruckt, wie in kürzester Zeit das ganze Schulsystem umgestellt wurde. Auch wenn es für eine qualitative Beurteilung dieser Umstellung noch zu früh ist. Ich würde aber dennoch sagen, dass die letzten drei Wochen zur Digitalisierung der Schulen mehr beigetragen haben als die drei Jahrzehnte davor.

Allein schon die Feststellung, dass es auch fundamental anders funktioniert und dabei in vielen Bereichen nicht unbedingt schlechter sein muss, ist sehr wertvoll. Und gleichzeitig wird man das, was man im Normalfall hat, auch mehr zu schätzen wissen. Die Reduktion aufs Essentielle ist wahrscheinlich auch eine nicht uninteressante Übung. Wichtig ist, und das gilt nicht nur für das Schulsystem, dass man bei der anschließenden Analyse auch konstruktiv mit den Erkenntnissen umgeht. Letztlich aber ist es natürlich schade, dass wir für bestimmte Erkenntnisse erst so etwas wie die Corona-Krise haben müssen.   

Interview: Uwe Hentschel

Fotos: shotshop.com

 

Infobox

Wie können Eltern und Kinder zu Hause das Beste aus der Situation machen?

Dazu ein paar Denkanstöße von Christine Schiltz:

  • Kinder fällt es oft noch eher schwer, sich zu organisieren und ihre Zeit gut einzuteilen. Erwachsene können ihnen dabei helfen.
  • Positive Verstärkung und Vertrauen in sein eigenes Können sind Grundprinzipien des Lernens. Soweit wie möglich sollten Eltern versuchen, die Kinder zu loben, wenn sie etwas gut machen. Dies hilft den Kindern, ein positives Selbstkonzept aufzubauen und so Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu schöpfen. (Unangepasstes Loben ist jedoch wenig effektiv, da Kinder sehr oft leere Worte entlarven).   
  • Lernen ist anstrengend und kann nur über begrenzte effizient Zeit andauern. Pausen und idealerweise Bewegung sind sehr wichtige Begleiter von Lernen. Eltern können helfen, dass das Verhältnis aus Lernen und Pausen/Bewegung dem Entwicklungstand des Kindes angepasst ist. 
  • Lernen findet nicht nur beim schulischen Üben statt. Aktivitäten wie Kochen, Backen, gemeinsames Spielen, gezieltes Diskutieren, Musizieren sind zum Beispiel auch wertvolle Gelegenheiten zum Lernen. Eltern können alternative Formen des Lernens anerkennen und fördern. Hier sollte natürlich nicht nur die kognitive, sondern auch die soziale Dimension berücksichtigt werden. 
  • Unterrichten ist oft die effizienteste Form des Lernens. Es sind nicht immer die Eltern, die den Kindern alles beibringen müssen. Es kann auch sehr wertvoll sein, sich Sachen von den Kindern erklären zu lassen. Dies könnte beispielsweise besonders nützlich sein, wenn die Eltern die Unterrichtssprache nicht oder nicht so gut beherrschen.

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