Reinhard Schneider, Universität Luxemburg
Der Nobelpreis für Chemie geht in diesem Jahr an drei Proteinforscher: David Baker (USA), Demis Hassabis (UK) und John Jumper (UK). Hassabis und Jumper ist das gelungen, wovon Forscher schon seit 50 Jahren träumen: Die Struktur von Proteinen vorhersagen zu können, dank des KI-Systems AlphaFold. Baker wird ausgezeichnet für die Möglichkeit, völlig neue Proteine zu designen und zu bauen.
Proteine sind Stränge aus Aminosäuremolekülen, die wie eine Perlenschnur aufgereiht sind und sich im dreidimensionalen Raum zusammenfalten. Wie genau sie sich zusammenfalten und welche 3D-Strukturen sie ergeben, bestimmt die Sequenz und Art der Aminosäuren. Dank der Arbeit Demis Hassabis (UK) und John Jumper (UK) können die 3D-Strukturen nun vorhergesagt werden.
Doch damit hört es nicht auf. Braucht man gerade eine ganz bestimmte 3D-Struktur, so könnte man ins Labor gehen und die passende Sequenz errechnen lassen, die genau diese 3D-Form ergibt. Somit lässt sich ein neu erfundenes Protein künstlich herstellen: das ist Proteindesign. Genau darauf zielt die Arbeit von David Baker aus.
Können Sie in ein paar Sätzen den heutigen Nobelpreis erklären? Inwiefern ist er gerechtfertigt?
Prof. Schneider: „Es geht um Proteinforschung. Proteine sind Stränge aus 20 Aminosäuremolekülen, die wie eine Perlenschnur aufgereiht sind und sich im dreidimensionalen Raum zusammenfalten. Sie sind die Arbeiter und Bausteine unseres Körpers und sind überall zu finden, als Enzyme, Botenstoffe, Hormone, in Geweben…
Anfangs hat man versucht, ihre Struktur herauszufinden, um ihre Funktionsweise zu verstehen. Man hat 50 bis 60 Jahre mit Statistik usw. an dem Problem gearbeitet, jedoch irgendwann ein Wissensplateau erreicht. Dann kam 2018 die Gruppe um DeepMind (Google), die das KI-Programm AlphaFold entwickelten. AlphaFold nutzt fortschrittliche maschinelle Lerntechniken (Deep Learning), um die dreidimensionale Struktur von Proteinen aus ihrer Aminosäuresequenz vorherzusagen. 2020 kam die Version 2, und diese ist ein wahrer Durchbruch gewesen. Die Vorhersagen sind so gut wie nur experimentelle Methoden es erreichen. Das hat die Welt aus den Angeln gehoben!“
Welchen Einfluss hatte Proteinforschung auf Ihren eigenen Werdegang?
Prof. Schneider: „Ich habe meine Diplomarbeit in der Vorhersage von Sekundärstrukturen geschrieben. Damals gab es jedoch bei weitem nicht genug Sequenzen, um adäquate Vorhersagen machen zu können. Ein Kollege hat dann neuronale Netzwerke für unsere Arbeit angewandt, und das hat uns weitergebracht. Daraufhin habe ich eine Bio-Informatik Firma gegründet, Lion Bioscience, die dazu beiträgt, schneller chemische Strukturen zu finden, die im Körper eine physiologische Wirkung haben und somit potenzielle Kandidaten für neue therapeutische Wirkstoffe sind. Wir haben Proteine aus öffentlichen Datenbanken rausgesucht, die für Medikamentenforschung interessant sein könnten.“
Was sind die Chancen und Risiken dieser Forschung?
Prof. Schneider: „Die Chancen sind enorm, vor allem in der Forschung über neue Medikamente und Materialien. Man denke an Plastik z.B.: könnte man einen Ersatz kreieren?
Die nächste Stufe wäre, Proteinkomplexe wie die eines Zellkernes zu entschlüsseln: wie binden sich Proteine zusammen? Und wenn man noch einen Schritt weiter geht: Könnte man ganz neue Proteine designen, und diese als Proteinkomplexe zusammenfügen?
Was AlphaFold betrifft: solch ein Werkzeug kann überall eingesetzt werden (Spracherkennung, Social Media Analysen, Übersetzungen usw.). Die Anwendungsbereiche sind sehr breit und die Chancen noch lange nicht ausgeschöpft.
Natürlich birgt solche Forschung auch gewisse Risiken: Bioterrorismus unter anderem. Gefährliche, toxische Proteine könnten in Zukunft künstlich hergestellt, oder Pathogene (wie Viren) gefährlicher gemacht werden. Bringt man eines Tages synthetische Proteine raus, so muss der Markt reguliert werden, genau wie bei neuen Chemikalien. Es steht noch viel Arbeit vor uns, um dieser sehr neuen Forschung einem Rahmen zu verschaffen.“
Autorin: Diane Bertel
Editorin: Lucie Zeches (FNR)
Wie sieht es in Luxemburg mit Proteinforschung aus? Sophia Loizidou und Prof. Tkatchenko, von der Universität Luxemburg, erklären uns ihre Arbeit.
Sophia Loizidou: “Die Bausteine der Proteine sind die Aminosäuren, die aus dem Rückgrat und den Seitenketten bestehen. Das Rückgrat besteht aus chemischen Bindungen, die sich um ihre Achse drehen können, und die dabei entstehenden Winkel werden als Flächenwinkel bezeichnet. Ein wichtiger Teil des Problems der Proteinstrukturvorhersage besteht darin, das Verhalten der Flächenwinkel zu verstehen. Wir schlagen statistische Methoden vor, um die Unsicherheit hinter den vorhergesagten Konformationen zu quantifizieren. Unser Ziel ist es, die Arbeit von AlphaFold zu ergänzen. In einem kürzlich erschienenen Artikel in Nature Methods heißt es: „Konformationsverteilungen sind die Zukunft der Strukturbiologie“. Hierfür verwenden wir Werkzeuge aus der Richtungsstatistik, die eines unserer Hauptforschungsgebiete ist. Richtungsstatistiken befassen sich mit Daten auf speziellen Trägern wie dem Kreis oder der Kugel. Die beiden Flächenwinkel können auf dem Torus modelliert werden, der das Produkt aus zwei Kreisen ist.“
Prof. Tkatchenko: „Unsere Arbeit im Bereich der biomolekularen Dynamik ist mit dem Nobelpreis für Chemie eng verbunden. Im Grunde genommen nehmen wir Strukturen aus AphaFold und lassen sie sich unter realistischen Bedingungen (Temperatur, Druck, pH-Wert usw.) bewegen. Die Proteinfunktionalität und die Wechselwirkungen zwischen Medikament und Protein ergeben sich aus diesen Bewegungen. Wir sind bereits dabei, AlphaFold-ähnliche Ansätze und unsere Molekulardynamik-Motoren in ein Start-up-Unternehmen in Boston zu integrieren.“