(C) Johan van der Walt
Sollten eher Politiker als Richter die Verfassung auslegen? Und was hat Jura mit Poesie zu tun? Johan van der Walt spricht mit uns über Rechtsphilosophie.
Herr Professor van der Walt, an welchem juristischen Fall arbeiten Sie gerade?
Manchmal untersuche ich zwar verschiedene »Fälle«, Rechtsentscheidungen oder Gesetze – dies dann aber mit der Absicht, um als Rechtsphilosoph schließlich einen Schritt zurückzutreten. Unsere Aufgabe als Rechtsphilosophen besteht vielmehr darin zu klären: Wie funktioniert das Rechtssystem grundsätzlich. Das ist gesellschaftlich sehr wichtig, denn ohne diese Grundlagen immer wieder neu zu überdenken würde die Argumentations- und Urteilsfähigkeit der Richter in konkreten Verfahren letztlich leiden.
Wie kann man dies erforschen? Im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern können Sie keine Experimente im Labor durchführen.
Vor allem müssen wir viel lesen, um unsere Einschätzungen beständig zu überprüfen und unsere Sichtweisen dann eventuell auch zu ändern. Unsere »Labore« sind Konferenzen, auf denen wir unsere Ansichten mit anderen Theoretikern diskutieren.
In diesem Sinne haben Sie in den letzten Monaten viele »Labore« besucht…
Das ist richtig. Ich war auf spannenden Konferenzen in den USA, in Großbritannien und Deutschland.
Um was ging es dort?
Im April war ich an der juristischen Fakultät der Yale Universität in den USA und habe mit einer Reihe herausragender Rechtstheoretiker über eine bestimmte Art von Fällen diskutiert: Wie fällen Richter Urteile, wenn es darum geht zu prüfen, ob Gesetze der Verfassung entsprechen. Die wesentliche Frage war: Wie geht man damit um, dass Richter die Verfassung nicht zwangsläufig besser auslegen können als der Gesetzgeber, der als demokratisch gewählter Vertreter des Volkes eigentlich den Vorrang bei der Auslegung der Verfassung genießen sollte. Wie schafft man hier einen fruchtbaren Dialog?
Haben Sie eine Lösung gefunden?
Meine persönliche Meinung ist, dass die Richter sich so weit wie möglich zurückhalten sollten, um dem Gesetzgeber die Möglichkeit zur Auslegung der Verfassung zu ermöglichen. Andere Rechtstheoretiker geben den Richtern aber eine viel aktivere Funktion bei dieser Auslegung. Ziel dieses wissenschaftlichen Diskurses ist es, ein klares Verständnis für alle einseitigen, vermeintlich unumstößlichen Wahrheitsansprüche zu entwickeln. In diesem Diskurs können Richter dann hilfreiche Orientierungspunkte finden.
Aber sind die Richter als Experten nicht besser ausgebildet als die Politiker und deswegen besser im Stande zu beurteilen was die Verfassung bedeutet?
Wenn es etwa um Fragen von, zum Beispiel, der Spannung oder Konkurrenz zwischen Freiheit und Gleichheit geht, spielt es keine Rolle, welche große Erfahrung oder Ausbildung ein Richter hat. Schlussendlich sind solche Fragen durch Politiker genauso gut oder schlecht zu beantworten, wie durch die juristischen »Profis«. Der Vorteil einer Auslegung durch Politiker besteht darin, dass man gezwungen wird darüber nachzudenken, was die Verfassung von uns erwartet und wie wir gesellschaftlich zusammenleben wollen; durch diese Herangehensweise ist fast keine gesellschaftliche Überzeugung und Gruppe vom öffentlichen Meinungsbildungsprozess ausgeschlossen.
Um Grundsätze des Rechts zu verstehen gehen Sie auch andere, »kreative« Wege…
Das stimmt. Ich vergleiche Recht mit Poesie. Man könnte sagen, der Vergleich sei unsinnig, weil man hier Äpfel mit Birnen vergleicht. Aber gerade hierdurch werden die Gegensätze sehr deutlich, etwa: Während sich Dichter sehr mit auf den einzelnen Menschen bezogenen Erlebnissen beziehen, strebt das Recht Allgemeingültigkeit an. Eine poetisch-literarische Geschichte – etwa Büchners Beschreibung des geisteskranken Schriftstellers Lenz – ist so speziell, dass sie sich mit nichts vergleichen lässt und keine moralische Belehrung für ähnliche »Fälle« bietet. In einem scheinen sich die beide Felder aber wieder zu ähneln: Auch wenn das Recht verallgemeinern will, kommen Richter nicht daran vorbei ‑ wie die Poesie ‑ eine zum Teil sehr spezifische Sprache zu benutzen. Tatsächlich sind richterliche Diskurse manchmal unreine Vermischungen von Jura und Poesie ‑ ausnahmslos mit einem wesentlichen Verlust für sowohl die juristische als auch die poetische Qualität des Diskurses. Das wird sich auch nie ändern. Aber wenn man nicht anfängt, hier rechtsphilosophisch »rein« zwischen den verschiedenen Elementen der richterlichen Sprache zu unterscheiden, wird man auch nie genau verstehen, was Richter meinen, wenn sie sich in einem Diskurs ausdrücken.
Autor: Tim Haarmann
Foto: Johan van der Walt
Infobox
Johan van der Walt ist Rechtsphilosoph und forscht seit 2011 an der Universität Luxemburg, wo er die Forschungseinheit »Recht« leitet. Zuvor arbeitete van der Walt an den Universitäten in Glasgow und Johannesburg und seit 2009 als außerordentlicher Professor an der Universität von Pretoria. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtslehre.