(C) Dietmar Heidemann

Herr Professor Heidemann, im FNR-geförderten Intermobility-Programm forschen Sie an „zeitgenössischer kantischer Philosophie“. Warum arbeiten Sie gerade mit Kant? Und wo findet Ihre Forschung Anwendung?

Auf der Grundlage der kantischen Philosophie und ihrer besonderen Methode lassen sich anwendungsspezifische Fragen, die gesellschaftliche Relevanz haben, gut beantworten. Wir fragen etwa: Was ist Erkenntnis? Was ist Bewusstsein? Was sind Wahrnehmungsurteile? Solche Fragen führen hin zu konkreten Teilprojekten, wie etwa der Frage: Was ist das ethisch angemessene Verhalten gegenüber Parkinson-Patienten? In Kooperation mit einem Kollegen von der University of St Andrews habe ich ein Intermobility-Projekt zum Thema „Fürsorge“  entwickelt: Dabei geht es um Fragen wie: Haben wir eine moralische Pflicht zur Fürsorge? Oder können wir unsere Fürsorgepflicht auch einschränken? Das ist etwas, was, vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft, immer größere Bedeutung bekommt. Mit den kantischen Texten der „Pflichtethik“ lässt sich hier ideal arbeiten.

Was wären hierfür Beispiele?

Zusammen mit Kollegen des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB) entwickeln wir derzeit Projekte, in denen es um ethische Probleme geht, die sich aus der medizinischen Forschung des Instituts ergeben, insbesondere der Parkinson-Forschung. Es stellt sich hier etwa die Frage: Ist es ethisch und moralisch zu rechtfertigen, dass alle in einem Experiment oder einer Untersuchung – etwa bei der Genomentschlüsselung – gewonnenen Erkenntnisse und die daraus folgenden Konsequenzen dem Patienten mitgeteilt werden? Oder ist es moralisch gerechtfertigt, dem Patienten bestimmte Daten vorzuenthalten?

Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es sicher nicht…

Das ist genau der Punkt. Man darf nicht so blauäugig sein – weder als Philosoph, noch als neutraler Beobachter – zu erwarten, dass die Philosophie mit einer konkreten Antwort der Gestalt aufwarten kann, dass sie sagt: In diesem Fall ist dieses zu tun und jenes zu lassen. Die Entscheidungen werden von uns nicht vorgegeben, sondern wir vermitteln die ethischen Kompetenzen, die zu einer Lösung hinführen und von Forschern bzw. Medizinern in der Praxis angewandt werden können.

Als Philosoph haben Sie kein Labor, in dem Sie Experimente durchführen und Hypothesen prüfen könne. Wie forscht man als Philosoph?

Auch wir haben unsere Labors. Dies sind aber keine physischen, sondern geistige Räume, in denen wir gedankliche Experimente durchführen. Entscheidend ist: Das sind keine Phantasiegebilde mit denen wir es da zu tun haben, sondern Gedankengänge und begriffliche Zusammenhänge, die klaren Realitätsbezug haben. Es gibt zwei experimentelle Herangehensweisen: Einmal, indem man sich selbst freischwebend Gedanken macht zum Beispiel über die Frage, ob wir eine Seele haben. Zum anderen durch Bezug auf historische Textvorlagen von Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Spinoza, Kant, Hegel…

Wie kann man prüfen, ob die Ergebnisse solcher Gedankenexperimente stimmen?

Genauso wie in den Naturwissenschaften: Es werden Aufsätze für Fachmagazine geschrieben, die anonym begutachtet werden. Der Selektionsprozess ist dabei enorm rigide: „In das „Journal of the History of Philosophy“ zum Beispiel werden durchschnittlich nur 3 bis 4 Prozent aller jährlich eingereichten ca. 250 Beiträge aufgenommen.

Das klingt tatsächlich so, als ob sich die Philosophie kaum von den Naturwissenschaften unterscheidet…

Der Hauptunterschied zu den Naturwissenschaften ist, dass unsere Forschungen nicht empirisch, also durch Beobachtung, zu prüfen sind. Empirie gilt in der Philosophie nicht als die hinreichende Bedingung etwa für die Theoriebildung oder wahre Urteile über die Welt – denn die Philosophie ist, wie etwa auch die Mathematik, eine Gedankenwissenschaft.

Autor: Tim Haarmann
Foto: (C) Dietmar Heidemann

Infobox

Kurzbiographie

 

Dietmar Heidemann forscht als Professor für Philosophie unter anderem zur Erkenntnistheorie, Idealismus, zeitgenössischer kantischer Philosophie und Metaphysik. Bevor Heidemann im Jahr 2009 an die Universität Luxemburg berufen wurde, studierte und lehrte er an den Universitäten Köln, Edinburgh und New York.

 

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