Die Orientierungsfähigkeit im Videospiel als Diagnosewerkzeug

Ein internationales Forscherteam taucht mit dem eigens entwickelten Sea Hero Quest ein in die Geheimnisse der menschlichen Orientierungsfähigkeit. Der Spieler steuert dabei virtuell über die Weltmeere, um die verblasste Erinnerung an seinen Vater aufzufrischen. Die Forscher sammeln währenddessen Daten zum Spielverlauf.

Der Verlust der räumlichen Orientierungsfähigkeit gehört zu den Leitsymptomen der Demenz. Allerdings gab es bislang noch keine groß angelegte wissenschaftliche Studie, die sich mit einer entsprechenden Bestandsaufnahme beschäftigte. „Die im Videospiel gesammelten Daten sind möglicherweise eine große Hilfe, wenn wir die Fähigkeiten von Patienten einschätzen wollen, die von kognitiven Ausfällen und degenerativen Erkrankungen des Nervensystems betroffen sind. Anhand der Daten können wir uns in einem klinischen Standardtest unter Umständen ein genaueres Bild vom Patienten machen.“, erklärt Dr. Glaab, Leiter der Forschungsgruppe Biomedical Data Science am Luxembourg Centre for Systems Biomedicine der Universität Luxembourg.

Wege zur frühzeitigen Diagnose 

Die Forscher verglichen die Ergebnisse im Videospiel mit den Frühsymptomen der Alzheimer Demenz (AD). Lagen bei gleichem Geschlecht und identischer Herkunft die Ergebnisse unter dem Durchschnitt der jeweiligen Altersklasse, war die Veranlagung auch ohne vorhandene klinische Symptome stärker ausgeprägt. Konkreter ausgedrückt: Bei unterdurchschnittlichen Ergebnissen war die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Betreffenden ein bestimmtes Allel (das ApoE-Gen) in sich tragen. Mit diesem Allel steigt das Risiko, an AD zu erkranken, um den Faktor 4.

„Dieser Test scheint bei der Risikobewertung hinsichtlich der zukünftigen kognitiven Leistungsfähigkeit zuverlässiger zu sein als die herkömmlichen klinischen AD-Tests. Die Resultate sind sehr vielversprechend, aber noch vorsichtig zu bewerten. Es gibt immer ein gewisses Risiko, dass so eine Studie durch Störvariablen beeinträchtigt wird.“, so Dr. Glaab. 

Die Studie liefert auch über das Resultat hinaus vielversprechende Ansätze. Im Mittelpunkt steht dabei die Entwicklung neuer Zusatz-Tools für klinische Untersuchungen – mit denen sich Alzheimer früher erkennen lässt.  „Wir können mit diesem Videospiel nicht alles erklären. Die Vorhersagen sind auch nicht zuverlässig genug, um daraus ein eigenständiges neues Diagnose-Tool zu machen. Das Spiel kann aber in der Praxis nützliche Zusatzinformationen liefern. In Kombination mit anderen verfügbaren Diagnose-Tools können wir die Spieldaten als zusätzliches effektives Werkzeug zur Prognose degenerativer Erkrankungen des Nervensystems heranziehen.“, meint Dr. Glaab.

Was genau ist Alzheimer eigentlich? 

AD ist eine sogenannte neurodegenerative Erkrankung. Sie führt zum Verfall der Nervenzellen (der Neuronen). Zu den Folgeerscheinungen zählt der zunehmende Verlust kognitiver Funktionen wie etwa des Erinnerungsvermögens.

Gedächtnisstörungen 

Wir sprechen zwar immer vom Gedächtnis als Ganzem. Für Wissenschaftler besteht das Gedächtnis aber aus mehreren Untereinheiten. So sind im episodischen Gedächtnis die Erinnerungen abgespeichert, während das semantische Gedächtnis fürs Lernen verantwortlich ist. Das prozedurale Gedächtnis sorgt indes dafür, dass das Gelernte automatisiert wird. Eine AD trifft in ihrem Verlauf alle drei Gedächtnisbereiche.

Beeinträchtigung zwischenmenschlicher Beziehungen

„Das Charakteristische an der Demenz ist neben dem Gedächtnisverlust die Tatsache, dass irgendwann auch die zwischenmenschlichen Beziehungen darunter leiden. Ab diesem Punkt wird es noch schwerer, die Krankheit in den Griff zu bekommen.“, sagt der auf Geriatrie spezialisierte Mediziner Dr. De Nadai, der in der Krankenhausgruppe der Hôpitaux Robert-Schuman die „Unité Cognitivo-Comportementale“ leitet. Die Abteilung befasst sich mit kognitiven Erkrankungen und Verhaltensänderungen. 

Bei der AD treten die zahlreichen Symptome Schritt für Schritt in Erscheinung. Die Gedächtnisstörungen gehören zu den ersten kognitiven Symptomen. Darauf können Sprach- und Orientierungsstörungen sowie Apraxien und Agnosien folgen. Die Betroffenen sind dann nicht mehr in der Lage, sich an motorische Abläufe zu erinnern oder Gegenstände und deren Funktion zu erkennen. Daneben kann die AD die Urteilsfähigkeit, das logische Denken und die Aufmerksamkeit beeinträchtigen. 

Der zweite große Bereich sind die kognitiven Symptome. Dazu Dr. De Nadai: „Die Verhaltensänderungen sind oft ein Einschnitt in der Entwicklung der Krankheit, weil sie die zwischenmenschlichen Beziehungen stören. Bis dorthin ist die herabgesetzte Gedächtnisleistung noch relativ leicht zu bewältigen.  Doch wenn sich das Verhalten des Patienten ändert, betrifft das direkt die Bezugspersonen. Das Umfeld des Patienten wird dadurch stark belastet.“

Die Störungen der Psyche und des Verhaltens drücken sich beispielsweise in einer gewissen Reizbarkeit oder sogar Aggressivität aus. Auch grundlegende Verhaltensmuster können davon betroffen sein – vom Essen über den Schlaf bis hin zu sexuellen Tabus. Am Ende kommen neurologische Symptome zum Beschwerdebild hinzu.

Der Unterschied zwischen Demenz und Alzheimer 

Die Demenz beschreibt eine Störung der Gedächtnisleistung, durch die der Patient im Alltagsablauf auf fremde Hilfe angewiesen ist.„Es gibt Alzheimererkrankungen, bei denen anfangs keine Demenz vorliegt, die sich aber irgendwann zur Alzheimer-bedingten Demenz entwickeln.“, erklärt Dr. De Nadai. 

Welche Prozesse laufen bei einer Alzheimer-Erkrankung im Gehirn ab?

Heutiger Wissensstand 

Das Gehirn besteht aus verschiedenen Regionen wie dem Hippocampus, der an den Gedächtnisprozessen beteiligt ist. Der Hippocampus ist bei der AD besonders stark in Mitleidenschaft gezogen: Es kommt zu einem Gewebeschwund von etwa 30 Prozent. 

Bei Studien konnten die Wissenschaftler zwei zentrale Funktionsstörungen ausmachen, welche die Übertragung von Botschaften zwischen den Neuronen behindern. Zum einen sind da die Amyloid-Plaques, die auch als senile Plaques bezeichnet werden. Sie entstehen durch die Anlagerung überschüssiger Proteine. Zweitens kommt es in den Neuronen zur Umwandlung und Anhäufung des Tau-Proteins, das sich in Form von Tau-Filamenten ablagert. 

Unbekannte Ursache

„Die Ursache der AD ist immer noch nicht geklärt. Bei den Amyloid-Plaques und Tau-Filamenten kann man noch nicht sicher sagen, ob die Prozesse Ursache oder Folge der AD sind.“, so Dr. Bouvier, der am LCSB der Universität Luxemburg forscht.

Neue interdisziplinäre Forschungsmethoden

„Vorher hat sich alles auf die Neurowissenschaft konzentriert. Die jüngsten wissenschaftlichen Fortschritte zeigen aber, dass die Krankheit komplexer ist. Inzwischen gehen wir davon aus, dass sie von mehreren Faktoren abhängig ist.“, so Dr. Bouvier. 

Neue Forschungsansätze 

Dr. Bouvier möchte mit seinem Team die Rolle der Mikroglia und der Astrozyten bei der AD-Entstehung genauer erforschen. Bei den Mikroglia handelt es sich um Immunzellen des Gehirns. Die Astrozyten sind indes vielseitige Zellen, welche die Prozesse in den Neuronen und Synapsen steuern. Eine Alzheimer-Erkrankung führt dazu, dass sich beide Zellarten ändern und für das Gehirn ungünstig entwickeln. „Wir analysieren diese Zelltypen im Bereich des Hippocampus. In einigen Unterregionen lässt sich dort ein frühzeitiger, sehr ausgeprägter und sehr selektiver Gewebeverlust feststellen. Wir möchten herausfinden, ob diese Anfälligkeit für einen Zellschwund auch auf eine Reaktion der anderen Zellen zurückgehen kann – also möglicherweise gar nicht von den Neuronen abhängt.“, erläutert Dr. Bouvier.

Die Rolle der Genetik

Die Häufigkeit und phänotypischen Ausprägungen der AD variieren in Abhängigkeit des Geschlechts. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass diesen Beobachtungen hormonale und genetische Ursachen zugrunde liegen. Dr. Glaab beschreibt, wie die These überprüft werden soll: „Wir versuchen, unterschiedliche  Schlüssel-Moleküle mit geschlechtsspezifischer Aktivität zu identifizieren, die mit Alzheimer in Verbindung gebracht werden. Wir hoffen, damit die festgestellten Unterschiede und deren Ausprägung auf molekularer Ebene erklären zu können.“

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Autor : Constance Lausecker

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