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"Der am besten untersuchte Faktor im Zusammenhang mit Stress in der Stadt ist die Vegetation als Schutzfaktor gegen Stress", sagt Camille Perchoux vom LISER.

Drei Viertel der Europäer wohnen in Städten. Um diese so lebenswert wie möglich zu machen, spielt kluge Stadtplanung eine große Rolle. In einer EU-finanzierten Studie will ein interdisziplinäres Forscherteam des « Luxembourg Institute of Socio-Economic Research » (LISER) und Partnern gemeinsam mit Einwohnern aus Luxemburg urbanen Stressfaktoren auf die Spur kommen und Wege zu gesünderen Städten aufzeigen. Dabei wird auch untersucht, wen diese Stressfaktoren mehr belasten als andere. Ein Gespräch mit der Projektleiterin Dr. Camille Perchoux.

Camille Perchoux ist seit 2016 Forscherin am Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (LISER). Sie ist Gesundheitsgeographin mit Studium in Geographie und Public Health - Epidemiologie. Sie promovierte 2015 in Epidemiologie an der Université de Montréal und Sorbonne Université. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Bewertung der Auswirkungen von Stadtvierteln auf die Gesundheit und gesundheitsbezogenes Verhalten. Ein wichtiger Teil ihrer Forschung konzentriert sich auf das Verständnis von sozialen und räumlichen Ungleichheiten in Bezug auf Gesundheit. Camilles Forschung beinhaltet den Einsatz interdisziplinärer Konzepte aus den Bereichen Gesundheit und Geographie, Methoden und Werkzeuge wie kartographische Fragebögen, den Einsatz von GPS und Biosensoren, Smartphone-Befragungen und Virtual-Reality-Technologie. Sie ist die leitende Forscherin des ERC-Projekts FragMent.

Auf der Internetseite des Projekts wird FragMent so beschrieben:

"Im Rahmen des FragMent-Projekts soll untersucht werden, wie die Umgebung, in der wir leben und reisen, sowie unsere täglichen Aktivitäten zu täglichem und chronischem Stress beitragen. Im Rahmen des Projekts wird auch ermittelt, ob bestimmte soziale Gruppen für diese Stressfaktoren anfälliger sind.

FragMent wird politischen Entscheidungsträgern, lokalen Organisationen und Bürgern in den Phasen der Zusammenarbeit und der Verbreitung der Ergebnisse helfen, die Exposition gegenüber Stressfaktoren im öffentlichen Raum gleichmäßig zu reduzieren."

Mehr Infos: https://www.fragmentproject.eu/de/projekt/

 

Welche städtischen Faktoren wirken nach Stand der Wissenschaft erholsam oder belastend?

Der am besten untersuchte Faktor im Zusammenhang mit Stress in der Stadt ist die Vegetation als Schutzfaktor gegen Stress. Viele Forschungsarbeiten aus der Psychologie bestätigen, dass natürliche Räume entspannender und erholsamer sind als urbane. Allerdings gibt die Forschungsliteratur wenig Auskunft darüber, auf welche Weise unterschiedliche städtische Räume erholsam wirken oder belasten. Das städtische Umfeld ist ja oft komplex. Grünanlagen, Verkehr, Lärm – wir erleben auf wenigen Metern alles gleichzeitig. Wo man arbeitet, isst, einkauft – all das hat einen Einfluss. Die Stadtviertel, Alltagsaktivitäten und Situationen, die Stress triggern oder eher entspannen, bei wem und warum, wurden bisher wenig untersucht. Das ist die große Lücke in der wissenschaftlichen Literatur.

Ein wichtiger Richtwert für Städte nach Stand der Wissenschaft ist dabei die von Cecil Konijnendijk, Direktor des Nature Based Solutions Institute, entwickelte „3-30-300-Regel“. Laut dieser Faustregel sollte ein Bürger von seiner Wohnung aus drei Bäume sehen, in seiner Nachbarschaft einen Baumbestand von 30 Prozent haben und in einem Umkreis von 300 Metern um eine hochwertige Grünfläche wohnen. Und eine Studie aus Barcelona zeigte: Wird diese Regel respektiert, so zeigen Menschen eine bessere mentale Gesundheit, nehmen weniger Medikamente und konsultieren seltener einen Psychiater oder Psychologen.

Für Luxemburg gibt es eine Studie über die Auswirkungen der Vegetation auf Herz-Kreislauf-Krankheiten. Letztere zählen weltweit zu den häufigsten Todesursachen. Das Forschungsteam des MET'HOOD-Projekts bewertete über einen Zeitraum von neun Jahren die Auswirkungen der bebauten und natürlichen Umgebung in Luxemburg auf das metabolische Syndrom, eine Kombination von Hauptrisikofaktoren für die kardiometabolische Gesundheit. Die Studie ergab, dass eine Zunahme der Vegetation um den Wohnort mit einem geringeren Risiko für die Entwicklung eines metabolischen Syndroms verbunden ist.

Was genau wollen Sie und Ihr Team mit dem Projekt FragMent nun herausfinden?

Nicht jeder lebt in einem Viertel, das die Grünflächenregel respektiert. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen in der Stadt leben, haben nicht alle den gleichen Zugang zur Natur, und immer mehr Stadtbewohner sind in dieser Hinsicht gefährdet. Es ist spannend zu untersuchen, wie die drei Elemente der Grünflächenregel über die verschiedenen Stadtviertel der luxemburgischen Gemeinden verteilt sind und wie die verschiedenen sozialen Gruppen Zugang dazu haben. Unsere Leitfrage lautet: Wie können Städte so gestaltet werden, dass sie Stress reduzieren und das Wohlbefinden im Alltag fördern - und das fair und auf gleichberechtigte Weise für alle sozialen Gruppen?

Warum der Fokus auf Stress – auch die körperliche Gesundheit leidet doch in der Stadt?

Wir mussten eine Wahl treffen. Vor allem aber ist Stress ein Faktor, den jeder aus seinem Alltag kennt, den aber viele Menschen unterschätzen. Dabei gilt chronischer Stress als ein Risikofaktor für 75 bis 80 Prozent aller Krankheiten.

Und welche sozialen Gruppen nehmen Sie besonders unter die Lupe?

Soziale Ungleichheiten tragen auch zu Ungleichheiten in Sachen Stress bei. Unser Schwerpunkt liegt auf zwei besonders gefährdeten Gruppen: Frauen und sozioökonomisch benachteiligten Menschen. Unsere erste Hypothese besagt, dass  Frauen bei der zeitlichen und räumlichen Organisation ihres Tages oft weniger flexibel sind als Männer und deshalb stressanfälliger. Denn Frauen müssen häufiger zu einer ganz bestimmten Zeit an einem ganz bestimmten Ort sein – etwa in der Kinderkrippe, um die Kinder abzuholen. Das erlaubt es ihnen nicht oder weniger, Orte oder Aktivitäten zu wählen, die einen Ausgleich zum Stresspegel bieten. Der Job dagegen erlaubt oft flexiblere Arbeitszeiten oder Homeoffice – das ist weniger stressig.

Unsere zweite Hypothese lautet, dass sozioökonomisch benachteiligte Gruppen stressigeren Umgebungen ausgesetzt sind. Und das nicht nur in ihrem Wohnviertel, sondern auch am Arbeitsplatz, beim Einkauf und an anderen Orten des Alltags. Diese Menschen wohnen oft weit entfernt von Grünanlagen. Sie können Stress weniger kompensieren und sind damit doppelt belastet - zu Hause und dort, wo sie sich regelmäßig aufhalten.

Wieso haben Sie das Projekt « FragMent » genannt, also Bruchstück?

Unsere täglichen Aktivitäten zergliedern sich in immer mehr einzelne Fragmente, auch durch die Digitalisierung: Man arbeitet schon morgens im Bus, unterbricht die Arbeit mittags und geht kurz in ein Geschäft, fängt abends wieder zu arbeiten an, wenn die Kinder im Bett sind. Nun untersuchen wir, wie die Menschen mehr oder weniger Zeit in Wohnvierteln, Parks, bei der Arbeit, in Freizeiteinrichtungen oder Geschäften verbringen, und was dies für ihre seelische Gesundheit bedeutet.

Um das herauszufinden, brauchen Sie die aktive Mithilfe vieler Einwohner. Mit welchen Formaten werden Sie sie beteiligen?

Uns war es wichtig, unsere Forschung in den Alltag der Menschen einzubetten. Neben Gruppendiskussionen und Workshops nutzen wir eine innovative Online-Umfrage mit interaktiven Karten, einer App für das Smartphone sowie Sprachaufnahmen. Die Teilnehmer erhalten 15 Tage lang jeden Tag per SMS vier Mini-Umfragen von je einer Minute, in denen wir aktuelle Aktivität und Stresslevel abfragen oder auch, ob das aktuelle Umfeld eher erholsam oder belastend ist. Ihr Aufenthaltsort wird automatisch mit dem GPS des Telefons gespeichert. Dann hinterlassen die Teilnehmer eine Sprachnachricht. Dafür lesen sie zwei Sätze vor oder zählen rückwärts. In Zusammenarbeit mit Guy Fagherazzi, Leiter der Abteilung für Präzisionsgesundheit am „Luxembourg Institute of Health“, analysieren wir dann die Stimme mithilfe von künstlicher Intelligenz. Denn bei Stress ändern sich zum Beispiel Tonlage, Lautstärke und Sprechtempo. Das macht die Stimme zu einem sehr verlässlichen Stressmarker und unsere Studie zur ersten, die die Stimme zum Messen von Stress in der Stadt einsetzt.

Außerdem suchen wir Teilnehmer für ein Experiment im Virtual-Reality-Labor hier am LISER. Die Testpersonen gehen auf einem Laufsimulator mit VR-Headset durch virtuelle Straßen, die typisch luxemburgisch aussehen, und hören typische Stadtgeräusche wie etwa Verkehrslärm. Dann ändern wir einzelne Elemente wie etwa Höhe der Häuser, Zahl der Bäume, Breite der Bürgersteige, oder den Charakter der Viertel – Wohnviertel, Fußgängerzone, Parkanlagen. Wir fragen die Teilnehmer nach Wohlbefinden und subjektiv empfundenem Stress und messen gleichzeitig ihren physiologischen Stress objektiv über den Herzschlag, Schwitzen oder erweiterte Pupillen. So können wir in Echtzeit erfassen, wie verschiedene Arten von Straßen wahrgenommen werden oder physiologischen Stress auslösen.

Virtual-Reality-Labor am LISER: Die Testpersonen gehen auf einem Laufsimulator mit VR-Headset durch virtuelle Straßen, die typisch luxemburgisch aussehen. Foto © LISER

Die ersten Gruppendiskussionen fanden bereits statt. Können Sie schon Resultate verraten?

Ja - die Teilnehmer waren sich einig, dass Unsicherheitsgefühle etwa in Bahnhöfen oder Zügen, Verspätungen im öffentlichen Nahverkehr und häufiges Umsteigen, Straßenverkehr und Stau sowie eine an Grünanlagen arme, moderne Architektur mit monotonen Fassaden zu den größten Stressfaktoren zählen.

400 Menschen sollen am Virtual-Reality-Experiment teilnehmen, an der Umfrage noch viel mehr. Wie motivieren Sie so viele Bürger zum Mitmachen?

Für verlässliche Resultate brauchen wir eine repräsentative Stichprobe von rund 2000 Teilnehmern. Wichtig ist, die Kommunikation sehr gut an die Zielgruppen anzupassen. Wir nutzen für unseren Aufruf soziale Medien und suchen mit Hilfe eines partizipativen Workshops besonders engagierte « Botschafter », die verschiedene Gruppen repräsentieren und ihr eine Stimme verleihen. Außerdem arbeiten wir mit einem Cartoonisten, der zum Beispiel die wichtigsten Forschungsresultate in amüsanten A4-Cartoons darstellt. Die können unsere Botschafter dann in ihrer Community verteilen.

Und wie erreichen die Projektresultate die Experten in der Praxis, zum Beispiel Stadt- und Raumplaner?

Wir binden die Akteure von Anfang an in die verschiedenen Projektphasen mit ein, nicht nur über die Vorstellung von Ergebnissen. So nahmen an einem Workshop im Vorfeld der Umfrage auch Vertreter der Stadt Luxemburg und der « Direction de la Santé » teil. Die Resultate werden wir in einem zweiten Workshop und in öffentlichen Diskussionsrunden vorstellen, zu denen alle Interessierten herzlich eingeladen sind.

FragMent: Unterstützer und Botschafter gesucht

Interessiert an der Suche nach den Umweltfaktoren für Stress in der Stadt?   Das „FragMent“-Forscherteam sucht für sein Projekt derzeit Teilnehmer und Botschafter. Mitmachen können Erwachsene von 18 bis 65 Jahren, die in Luxemburg leben und Französisch, Deutsch oder Englisch sprechen. Die Umfrage wird im Oktober 2024 starten.

Botschafter spielen eine entscheidende Rolle für den Erfolg der Umfrage, indem sie diese über E-Mail, Web oder soziale Medien weit streuen und auch die Resultate verbreiten. Die Botschafter erhalten dazu detailliertes Infomaterial.

 

Nehmen Sie teil am Virtual Reality-Experiment!

Wer am Virtual-Reality-Lab-Experiment teilnehmen möchte, kann sich hier anmelden.

Das “FragMent”-Projekt läuft über fünf Jahre und wird von der Europäischen Union im Rahmen des „Horizon European Research Council (ERC) Starting grant program” gefördert. Beteiligt sind insgesamt sieben Universitäten und Forschungsinstitute  mit Experten in Public Health, Epidemiologie, Geographie, Psychologie, digitaler Gesundheit und virtueller Realität.

Weitere Informationen auf https://www.fragmentproject.eu/

Kontakt: Camille Perchoux PhD, Research Scientist and Principal investigator, E-Mail fragmentproject@liser.lu

Autorin: Britta Schlüter
Redaktion: Michèle Weber (FNR)

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