Philippe Van Kerm ist Wirtschaftswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Ungleichheiten und Sozialpolitik an der Universität Luxemburg.

Armut ist ein vielschichtiges Phänomen, hinter dem sich viele traurige und schwierige Schicksale verbergen. Um es besser zu verstehen, haben wir mit Philippe Van Kerm gesprochen, einem Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Luxemburg, der sich auf Ungleichheiten und Sozialpolitik spezialisiert hat.

Es gibt absolute Armut, relative Armut und sogar gefühlte Armut. Wie soll man sich da zurechtfinden?

Diese Konzepte lassen sich hierarchisch ordnen. Zunächst spricht man von extremer Armut, einer Situation, in der nicht einmal das reine Überleben gesichert ist. Das ist der berühmte „ein Dollar pro Tag“ (oder 2024 2,15 $). Eine solche Situation extremer Armut ist in vielen Ländern der Welt anzutreffen, kommt aber in Europa praktisch nicht vor.

Deshalb erweitern wir den Armutsbegriff. Jetzt geht es nicht mehr nur um das schiere Überleben, sondern um ein „menschenwürdiges“ Leben und die volle Teilhabe an der Gesellschaft. Man kann die Güter und Dienstleistungen definieren, die für ein menschenwürdiges Leben in einem reichen Land unerlässlich sind. Dabei handelt es sich um ein absolutes Kriterium, da es nicht in Bezug auf einen Durchschnitt festgelegt wird. Trotzdem ist es je nach Land und Zeit unterschiedlich ausgestaltet: Ein Internetzugang gilt heute in Luxemburg als lebensnotwendig, vor 15 Jahren war er es noch nicht.

Dieser Ansatz ist aber schwierig und potentiell fehleranfällig, da er auch die Präferenzen des Einzelnen berücksichtigen müsste. Deshalb gibt es ein zweites, relatives Konzept der Einkommensarmut, das sich auf einen monetären Bezugspunkt konzentriert, der in der Bevölkerung beobachtet wird. Man nimmt beispielsweise eine Schwelle von 60 % des Medianeinkommens (das die Bevölkerung in zwei gleich große Gruppen teilt, Anm. d. Red.), unterhalb der eine Person als „armutsgefährdet“ gilt. Diese 60 %-Schwelle ist natürlich willkürlich und undifferenziert, aber ihre Anwendung in der Europäischen Union ermöglicht Vergleiche zwischen Ländern und im Zeitverlauf.

Auf Einkommen basierende Armutsmessungen spiegeln jedoch das Erleben der Menschen nicht vollständig wider. Deshalb berücksichtigen manche Methoden auch subjektive Aspekte und fragen beispielsweise danach, ob jemand am Ende des Monats noch Geld übrig hat. Dieser Ansatz scheint intuitiv, wird aber in der Sozialpolitik selten eingesetzt, weil seine Zuverlässigkeit fraglich ist und die Normen und Bezugspunkte einzelner Menschen voneinander abweichen. Es besteht auch das Risiko der Anpassung, wenn sich eine Person letztlich mit ihrer Lage arrangiert und eine Situation als akzeptabel betrachtet, die von der Mehrheit als untragbar eingestuft würde.

Die relative Armut berücksichtigt nationale Durchschnittswerte. Sollten nicht auch regionale und internationale Unterschiede einfließen? Man vergleicht sich ja auch mit Menschen aus den Nachbarländern.

Man könnte sich eine Armutsgrenze vorstellen, die auf dem Medianeinkommen in der EU basiert, aber das Ziel von internationalen Vergleichen besteht darin, die Ausgrenzung innerhalb der einzelnen Länder zu analysieren und nicht, eine Rangliste der reichsten Länder zu erstellen. Armutspolitische Maßnahmen werden auf nationaler Ebene entschieden und erfordern daher eine nationale Sichtweise auf das Problem.

Wie lässt sich der Anstieg der relativen Armut in Luxemburg erklären?

Diese Entwicklung der relativen Armut ist eng mit den zunehmenden Ungleichheiten verknüpft: Die niedrigen Einkommen sind langsamer gestiegen als das Medianeinkommen, das für die Festlegung der Armutsgrenze maßgeblich ist. Die Herausforderung, den Anstieg der relativen Armut zu stoppen, besteht darin, das Wachstum der niedrigen Einkommen mit dem des Medianeinkommens in Einklang zu bringen.

Was sagt die Wissenschaft zu den Möglichkeiten der Armutsbekämpfung?

Für die Spezialisten – sowohl aus der Forschung als auch aus der Verwaltung – gibt es zwei einander ergänzende Ansätze. Der erste ist direkter Natur: Man unterstützt die Einkommen der am stärksten Benachteiligten durch Geldtransfers in Form von Steuererleichterungen, Sozialleistungen, Wohnungsbeihilfen oder Gutscheinen für die Kinderbetreuung. Das soziale Sicherungsnetz muss ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten und dafür sorgen, dass niemand durch seine Maschen fällt.

Der zweite ist ein indirekter Ansatz und setzt auf die Entwicklung von „Humankapital“. Dabei geht es darum, Menschen in prekären Lebensverhältnissen durch Unterstützung bei der Arbeitssuche und passende Aus- und Weiterbildungen in die Lage zu versetzen, selbst über die Mittel zu verfügen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern – in erster Linie durch Arbeit. Auch die schulische Ausbildung von Kindern in prekären Situationen muss unterstützt werden. Es geht darum, sowohl die Auswirkungen der Armut als auch die sie verstärkenden Faktoren zu bekämpfen, denn Armut kann einen Teufelskreis auslösen.

Sieht das die Politik auch so?

In Europa ist die Politik insgesamt mit diesen Ansätzen einverstanden. Die Regierungen verlagern den Schwerpunkt mal auf direkte – mehr oder weniger „großzügige“ – Hilfe, mal auf indirekte Hilfe, aber es gibt immer eine Kombination dieser Ansätze.

Die Idee, ausschließlich auf wirtschaftliches Wachstum zu setzen, um die Armut zu beseitigen, ist nicht mehr zeitgemäß: Mittlerweile ist klar, dass Wohlstand nicht automatisch nach unten weitergegeben wird. Wachstum muss ausgewogen sein. Es muss mit sozialen Schutzmechanismen und einer gerechten Besteuerung und Umverteilung einhergehen. Darüber gibt es inzwischen einen breiten Konsens, auch in den großen internationalen Institutionen wie der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds.

Armut ist ein Stigma. Ist das ein Problem?

Die Scham über die prekäre Situation – der Blick der anderen oder der eigene – ist nach wie vor groß, insbesondere wenn Kinder von Armut betroffen sind. Diese psychische Belastung kommt zu den materiellen Schwierigkeiten der Armut hinzu, und die Stigmatisierung kann eine kontraproduktive Dynamik auslösen. Tatsächlich unternehmen viele Menschen keine Schritte, um die ihnen zustehenden Hilfen in Anspruch zu nehmen. Sie kennen sie nicht, sind von den Verfahren eingeschüchtert oder ziehen es vor, keine Sozialhilfe zu beziehen, weil sie immer noch mit einem Stigma behaftet ist.

Mehr dazu:

Autor: Daniel Saraga
Redaktion: Jean-Paul Bertemes (FNR)
Übersetzung: Nadia Taouil (t9n.lu)

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