(C) Shutterstock
Niemand will Tiere leiden sehen – auch nicht Forscher. Doch kontrolliert überhaupt jemand Tierversuche? Und was wird getan, um sie zu vermeiden?
Wer hat eine Bekannte, die Brustkrebs überlebt hat? Wer lässt sich jedes Jahr gegen die Grippe impfen? Wer nimmt regelmäßig die Anti-Baby-Pille oder ab und zu Kopfschmerztabletten? Und wer wurde schon mal operiert und erhielt dabei eine Bluttransfusion? All diese medizinische Fortschritte wurden in Tierversuchen getestet, bevor sie für den Einsatz am Menschen zugelassen wurden. Würden wir auf solche Fortschritte verzichten wollen? Oder könnte die Forschung auch ohne Tierversuche auskommen?
Tierversuche – ein Thema, das stark polarisiert. Auf der einen Seite weisen Tierversuchsgegner auf die Rechte der Tiere hin und fordern, dass alle Tierversuche gestoppt werden. Auf der anderen Seite sind viele Forscher der Meinung, dass medizinischer Fortschritt ohne Tierversuche nicht möglich sei. Dazwischen steckt die Öffentlichkeit in einem moralischen Dilemma. Tierversuche – ja oder nein? Bilden Sie sich ihre eigene Meinung. science.lu geht auf einige Fragen und Kritikpunkte rund um Tierversuche ein und nimmt auch die Situation in Luxemburg unter die Lupe.
Patienten und freiwillige Teilnehmer an klinischen Studien werden vor Beginn der Studie über Details und Risiken der Studie aufgeklärt und müssen ihre schriftliche Zustimmung zur Teilnahme geben. Eine Maus kann man nicht fragen, ob sie bereit wäre bei einem Experiment mitzumachen. Wie also sind Tierversuche in der Forschung geregelt?
Wie sind Tierversuche geregelt?
Tierversuche in der EU sind durch die Richtlinien 2010/63/UE des Europäischen Parlamentes und Rates geregelt1. Diese Richtlinien wurden in nationale Gesetze übertragen und schützen das Wohl der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere.
Sie geben vor:
- welche Tiere benutzt werden dürfen
- wie diese Tiere erworben, gehalten und behandelt werden müssen
- welche experimentellen Prozeduren erlaubt sind
- welche Bedingungen eine Forschungseinrichtung erfüllen muss, um diese Prozeduren durchführen zu dürfen.
Die Richtlinien fordern ebenfalls Tierversuche möglichst zu vermeiden, zu verringern und zu verbessern, nach dem international anerkannten 3R-Prinzip: „Replace, Reduce, Refine“:
- Replace - Tierversuche sollen durch Verfahren ersetzt werden, bei denen keine Tiere verwendet werden. Gibt es anerkannte alternative Methoden um das Forschungsziel zu erreichen, schreibt die Richtlinie deren Einsatz zwingend vor2.
- Reduce - Tierversuche sollen so geplant werden, dass die Zahl der benötigten Tiere reduziert wird
- Refine – Tierversuche sollen so verbessert werden, dass Schmerz, Leid oder Stress für die Tiere so weit wie möglich verringert oder deren Wohlergehen erhöht wird.
In der Praxis bedeutet dies, dass manche Tiere unter Narkose behandelt werden oder Schmerzmittel verabreicht bekommen, um den Versuch so angenehm wie möglich für sie zu machen - wie auch in der veterinär- oder humanmedizinischen Praxis üblich. Leidet ein Tier zu stark, muss der Versuche durch Euthanasie beendet werden. Tierversuche sind in unterschiedliche Schweregrade unterteilt (mehr dazu in der Infobox).
Groβer Wert legt die EU-Direktive ebenfalls auf eine Abwägung der Schäden und Nutzen. Es sei „sowohl aus moralischen als auch aus wissenschaftlichen Gründen von großer Bedeutung, zu gewährleisten, dass jede Verwendung von Tieren sorgfältig hinsichtlich der wissenschaftlichen oder bildungsrelevanten Gültigkeit, Zweckmäßigkeit und Relevanz des erwarteten Ergebnisses dieser Verwendung bewertet wird. Die voraussichtliche Schädigung des Tieres sollte gegen den erwarteten Nutzen des Projekts abgewogen werden“.
Und in Luxemburg?
Im Großherzogtum sorgt ein Règlement grand-ducal 3 für den Schutz der zu wissenschaftlichen Zwecken verwendeten Tiere. Das Règlement basiert auf einem nationalen Gesetz von 1963 („Vie et bien-être des animaux“) und integriert die oben genannten EU Richtlinien.
- Forschungseinrichtungen in Luxemburg, die Tiere für wissenschaftliche Zwecke nutzen wollen, müssen vom Ministère de l’Agriculture eine Zulassung bekommen. Dafür muss jedes Institut u.a. einen Experten haben, der für das Wohlergehen der Tiere verantwortlich ist.
- Für jedes Forschungsprojekt mit Tierversuchen muss eine individuelle Erlaubnis beim Ministère de l’Agriculture und Ministère de la Santé beantragt werden. Die Administration des Services Vétérinaires des Ministère de l’Agriculture begutachtet dabei besonders den Schutz der Tiere und die Einhaltung der 3R (Replace – Reduce – Refine), wogegen das Ministère de la Santé die wissenschaftlichen Ziele und die Notwendigkeit der Tierversuche unter die Lupe nimmt.
Dazu hat jedes Forschungsinstitut einen „Animal Welfare Body“ , was eine interne Ethikkommission ist. Dieser besteht aus dem Experten, der für das Wohlergehen der Tiere verantwortlich ist, sowie anderen Wissenschaftlern und einem Tierarzt. Jedes Forschungsprojekt wird von dieser internen Ethikkommission begutachtet bevor ein Antrag bei den Ministerien gestellt wird.
Was sind die Alternativen?
Sobald neue tierversuchs-freie Methoden weltweit als gleichwertig von Behörden anerkannt wurden, müssen sie laut EU-Direktive gegenüber Tierversuchen bevorzugt werden.
Aktuell wird viel auf dem Gebiet der sogenannten „Lab-on-a-chip“ geforscht. In Mini-Apparaten mit winzigen Kanälen und Schläuchen wird durch Zugabe von Flüssigkeiten, Zellen und chemischen Substanzen ein Umfeld erzeugt, das dem im menschlichen Gewebe ähnelt. Mit einem solchen „Chiplabor“ namens HuMix ahmen Forscher am Luxembourg Centre for Systems Biomedicine beispielsweise die komplexen Wechselwirkungen zwischen menschlichen Zellen und Bakterien im Darm nach. Sie können das Gerät auch nutzen, um die Wirkung von Probiotika und Medikamenten zu testen – ganz ohne Tierversuche. Ein ähnliches Gerät wurde ebenfalls von Wissenschaftlern an der Uni Luxemburg für Medikamente-Tests in neurodegenerative Krankheiten entwickelt.
Forscher analysieren neue Substanzen, die potenzielle neue Medikamente werden könnten, oder Krankheitsverläufe auch in Computersimulationen. Sie schätzen ab, ob eine Substanz toxisch sein könnte, indem sie sie mit ähnlichen Substanzen vergleichen. Außerdem können sie am Computer auch viele verschiedene Hypothesen simulieren und nur mit den vielversprechendsten dann im Labor weiterarbeiten. Somit reduzieren sich die Anzahl der Zellkultur- oder Tierversuche.
Computersimulationen helfen auch Medizinstudenten chirurgische Methoden zu lernen. Das Team um Stéphane Bordas an der Uni Luxemburg entwickelt solche Simulationen,
Eine andere Alternative für Medikamentetests sind sogenannte „Microdosing“ Studien an Menschen, bei denen freiwillige Teilnehmer sehr geringe Dosen verabreicht bekommen, um die Aufnahme und Veträglichkeit zu testen (wird manchmal als Klinische Studie – Phase 0 bezeichnet). So kann eventuell früher abgeschätzt werden, ob neue Medikamente Wirkungspotenzial haben. Das könnte Experimente an Tieren vermeiden, um das Medikament weiter zu entwickeln und zu testen. Microdosing ist eine neue Methode und hat, wie andere Tests auch, ihre Grenzen; es gibt keine Garantie, dass die Reaktion des Körpers auf die volle Dosis die gleiche ist wie die auf eine geringe.
Manche Tierversuchsgegner werfen Wissenschaftlern vor, dass sie nur auf Tierversuche zurückgreifen, weil sie schneller, billiger und bequemer sind. Das stimmt jedoch nicht, denn viele alternative Tests im Reagenzglas oder Computersimulationen sind schon allein deshalb kostengünstiger, weil sie weniger lange dauern und automatisiert werden können4. Tierversuche sind teuer – hohe Kosten entstehen nicht nur bei der Durchführung von Versuchen, sondern auch bei der Beschaffung und artgerechten Unterbringung der Tiere, bei der Ausbildung des Fachpersonals und den Antrags- und Begutachtungsverfahren5.
Was kann noch verbessert werden?
Vieles hat sich bereits getan. Seit 2013 sind Tests von Kosmetika oder kosmetischen Inhaltstoffen an Tieren in der EU verboten6. Ein striktes Verkaufsverbot gilt ebenfalls EU-weit für Kosmetika, die in andern Ländern an Tieren getestet wurden. Begründung dieser EU-Regelung: Tierversuche werden hier nicht mehr benötigt, denn Firmen können bereits zugelassene Inhaltsstoffe für die Entwicklung neuer Kosmetika verwenden und/oder neue Inhaltsstoffe und Kosmetika mit alternativen Methoden wie z.B. künstlichen Präparaten menschlicher Haut testen.
Solche Alternativen könnten noch stärker gefördert und gewertschätzt werden. Internationale Beispiele für groβ angelegte Initiativen sind das National Center for the 3Rs in Groβbritannien und das European Union Reference Laboratory for Alternatives to Animal Testing. Letzteres hat auch eine Datenbank (DB-ALM )7 mit alternativen Methoden und ein Handbuch8 für die Suche nach solchen geschaffen.
Des Weiteren gibt es eine globale Initiative, die zur verbesserten Berichterstattung von Tierversuchen in der wissenschaftlichen Fachliteratur aufruft. Diese basiert auf Kritik aus Reihen der Forscher. Die wenigen systematischen Zusammenfassungen (sogenannte„Systematic Reviews“), die über Studien mit Tierversuchen veröffentlicht wurden, werfen Zweifel über Aufbau, Qualität und Relevanz der untersuchten Studien auf9. Solche systematischen Überprüfungen werden regelmäßig von unabhängigen Wissenschaftlern gemacht, um die Qualität und Aussagekraft bestehender Literatur zu bewerten.
Wissenschaftliche Publikationen enthalten oft mangelhafte Informationen über die Durchführung und Ergebnisse von Tierversuchen9. Das macht es der Forschungsgemeinschaft schwer, neue Studien zu planen, bestehende Methoden zu verbessern, oder Ergebnisse zu interpretieren. Um eine transparentere und standardisierte Berichterstattung von Tierversuchen zu fördern, haben Wissenschaftler die ARRIVE Leitlinien ausgearbeitet.
Diese können ebenfalls bei der Planung von Tierversuchen helfen. Denn auch hier wird vielen Studien mit Tierversuchen mangelhafter Aufbau und Voreingenommenheit vorgeworfen10,11. Weiβ der Forscher z.B. welches Tier welche Behandlung erhalten hat, können systematische Fehler in der Analyse passieren. Bei klinischen Studien an Menschen werden bestimmte Standards streng empfohlen; die Einführung ähnlicher Standards würde die Qualität von Tierversuchen allgemein heben.
Neben der Entwicklung und Zulassung von Alternativen zu Tierversuchen gilt es also in der Zwischenzeit auch, noch an den aktuellen Methoden zu feilen. Doch auch wenn Gesetze, Leitlinien und Systeme verbessert werden können: Eine 100% Kontrolle, dass alles eingehalten wird, ist wie bei vielen anderen Systemen wahrscheinlich unmöglich. Wie sieht die Zukunft aus? Kann man die Frage Tierversuche - ja oder nein? überhaupt pauschal beantworten? Mehr dazu im 3. Teil des science.lu Specials.
Autor: science.lu
Photo: Shutterstock
Weitere Fragen
Quellen
1. http://ec.europa.eu/environment/chemicals/lab_animals/legislation_en.htm
2. http://ec.europa.eu/environment/chemicals/lab_animals/pdf/vivisection/de.pdf
3. http://www.legilux.public.lu/leg/a/archives/2013/0014/2013A0260A.html
4. http://www.hsi.org/issues/chemical_product_testing/facts/time_and_cost.html?referrer=https://www.google.lu/
5. https://www.aerzte-gegen-tierversuche.de/de/infos/allgemein/269-was-kosten-tierversuche.html
6. http://europa.eu/rapid/press-release_IP-13-210_de.htm
7. https://eurl-ecvam.jrc.ec.europa.eu/databases/database-on-alternative-methods-db-alm
8. http://bookshop.europa.eu/en/the-eurl-ecvam-search-guide-pbLBN124391/
9. http://www.bmj.com/content/348/bmj.g3387
10. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC351856/
11. http://journals.plos.org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.1000245
Infobox
Laut Statistiken der Administration des services vétérinaires des Ministeriums für Agrikultur wurden im Jahr 2015 in Luxemburg 3524 Tiere in Prozeduren für wissenschaftliche Zwecke benutzt. 87% davon waren Mäuse, 2% Ratten und 11 % Zebrafische. In Luxemburg werden aktuell nur Tierversuche in der Grundlagenforschung (99%) und translationellen Forschung (Forschung, die versucht Ergebnisse aus der Grundlagenforschung für die Praxis anzupassen) in öffentlichen Forschungseinrichtungen durchgeführt, die eine Genehmigung vom Ministère de l’Agriculture und dem Ministère de la Santé haben.
Es werden zu diesem Zeitpunkt (Stand Sep 2016) in Luxemburg keine neuen Medikamente an Tieren getestet. 2015 wurden die Labortiere hauptsächlich für Forschung über Krebs, das Nervensystem, Immunsystem und kardiovaskuläre System benutzt. 4 % der Tiere wurden in Prozeduren mit dem Schweregrad „keine Wiederherstellung der Lebensfunktion“ benutzt, 47% in der Schweregrad-Klasse „gering“, 48% in der Klasse „mittel“ und 1% in der Klasse „schwer“. Der Schweregrad einer Prozedur wird nach dem Ausmaß von Schmerzen, Leiden, Ängsten oder dauerhaften Schäden festgelegt, die das einzelne Tier während der Prozedur vorraussichtlich empfindet bzw. erleidet. Mehr Infos dazu hier.
„Gering“:
- eine Magnetresonanztomografie (MRT) unter Narkose oder Beruhigungsmitteln
- eine Studie, bei der eine einzelne Dosis einer Substanz gespritzt wird und dem Tier eine geringe Menge Blut entnommen wird. Die verabreichte Substanz darf dabei keine negativen Effekte hervorrufen.
"Mittel"
- Organtransplantation unter Verabreichung von Vollnarkose und Schmerzmitteln
- wenn ein erwachsenes Nagetier 48 Stunden nichts zu essen bekommt
„Schwer“
- Wachstum von spontan enstandenen oder künstlich hervorgerufenen Tumoren, die eine progressive, schmerzhafte Krankheit über einen längeren Zeitraum verursachen.
„Keine Wiederherstellung der Lebensfunktion“
- Prozeduren die gänzlich unter Vollnarkose durchgeführt werden, aus der das Tier nicht erwacht.