Ulf Nehrbass Paul Wilmes

LIH, ScienceRelations

Ulf Nehrbass (links) ist CEO vom LIH und Sprecher der Covid-19 Task Force. Paul Wilmes (rechts) ist Professor am LCSB der Universität Luxemburg und Stellvertretender Sprecher der Covid-19 Task Force.

Die Covid-19 Task Force ist ein Zusammenschluss aus Forschern in Luxemburg, die seit Wochen in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern und Krankenhäusern an Projekten, Simulationen und Strategien arbeitet, um die Ausbreitung des Virus faktisch zu begleiten und die Lage zu überwachen, mit dem Ziel die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus jederzeit unter Kontrolle zu behalten.

Sie hat nun eine Large-Scale-Testing-Strategie entwickelt, die vorgestern auf einer Pressekonferenz vorgestellt wurde. Mit Hilfe dieser Strategie sollen die momentanen Lockerungsmaßnahmen sicherer und schneller vonstattengehen. Das Vorhaben ist weltweit einmalig: Die gesamte Bevölkerung soll getestet werden können. Dadurch sollen in erster Linie neue Infektionsketten verhindert werden, damit die wichtigsten Elemente des Alltaglebens garantiert werden können, ohne dass dabei die Gesundheit des Einzelnen gefährdet oder das Gesundheitswesen überlastet werden. Wir haben mit dem Sprecher und dem stellvertretenden Sprecher der Covid-19 Task Force gesprochen, Ulf Nehrbass (LIH) und Paul Wilmes (Universität Luxemburg).

Um was geht es bei der Test-Strategie?

Sie basiert auf vier Haupt-Punkten:
 

  • einer Einteilung der Bevölkerung in Kontingente
  • einer großflächigen Teststrategie, mit dem Ziel, Kontingent für Kontingent und schließlich die gesamte Bevölkerung (plus Grenzgänger) mehrfach zu testen (mit anschließenden effizienten Isolations- und Quarantäne-Maßnahmen)
  • Aufgrund der dann niedrigen, verbleibenden Prävalenz (also niedrigen Zahl an Virusträgern) in die Lage zu kommen, eine Wiederausbreitung durch effektive Kontaktverfolgung zu stoppen
  • Eine relativ schnelle und sichere Wiederaufnahme von Aktivitäten unter Berücksichtigung der allgemeinen Hygienemaßnahmen

Diese Strategie ist im Einklang mit der von der Regierung vorgesehenen schrittweise Lockerung aus dem Lockdown. Das Ziel ist es, die Ausbreitung des Virus faktisch zu begleiten und die Lage zu überwachen, mit dem Ziel die Entwicklung jederzeit unter Kontrolle zu behalten. Sie erlaubt es den politischen Entscheidungsträgern:
 

  • jederzeit über die Ausbreitung des Virus in Luxemburg informiert zu sein und Entscheidungen an die Situation anpassen zu können
  • durch die großflächige Teststrategie einzelner Kontingente einerseits einzelne Gesellschaftsgruppen schneller (Prozess über ca. 3 Monate) von Beschränkungen zu befreien und andererseits das Risiko der Lockerungsmaßnahmen zu minimieren

Ulf Nehrbass, unter Deiner Leitung wurde ein Konzept erstellt, wie die luxemburgische Forschung die Exit-Strategie Luxemburgs begleiten kann. Welche Hauptelemente galt es zu berücksichtigen, bei der Entwicklung dieser Strategie?

Ulf Nehrbass: Wir haben es zurzeit zu tun mit einem Virus, das mit solch einer Wucht über uns kam, dass es das Leben der Menschen quasi auf der ganzen Welt komplett auf den Kopf gestellt hat. In einer ersten Reaktion haben Regierungen weltweit mit teils drastischen Maßnahmen reagiert. Was richtig und wichtig war. Sonst hätten wir total die Kontrolle verloren und es wäre zu katastrophalen Zuständen gekommen. Wir wollen aus dieser Situation aber natürlich wieder raus. Was hierbei wichtig ist zu wissen: Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis wir unser Leben wieder so zurückhaben, wie wir es vor ein paar Monaten gekannt haben. Wir müssen also lernen, bestmöglich mit dem Virus zu leben. Und das geht am besten, wenn wir die Kontrolle über das Virus haben und die neuesten Erkenntnisse zum Virus in unsere Handlungen mit einbeziehen. In der Strategie muss es also darum gehen, innovative Lösungen zu entwickeln, wie wir trotz Virus wieder das gesellschaftliche Leben in Gang setzen und dabei jederzeit die Kontrolle über das Virus haben.

Nun stehen wir allerdings vor einem Dilemma: Im aktuellen Zustand des Lockdowns haben wir eine gute Kontrolle über das Virus. Rein aus epidemiologischen Gründen, wäre es gut in diesem Zustand zu bleiben. Aus vielen anderen Gründen ist es jedoch wichtig, so schnell wie möglich wieder aus diesem Lockdown rauszukommen, z.B. aus wirtschaftlichen, psychologischen oder sozialen Gründen, oder wegen der Kollateralschäden, die dieser Zustand anrichtet. In der luxemburgischen Forschung beschäftigen sich übrigens auch viele Forscher mit den psychologischen und wirtschaftlichen Folgeschäden der Pandemie. Aus dem Lockdown rauszugehen bedeutet jedoch ein gewisses Risiko einzugehen. Auf individueller Ebene, weil das Risiko für den Einzelnen sich anzustecken steigt, und auf gesellschaftlicher Ebene, weil das Risiko einer zweiten Infektionswelle steigt, die im schlimmsten Fall wieder zu einem erneuten Lockdown führen könnte. Es muss bei der Strategie also auch darum gehen, diese Risiken zu minimieren, bzw. zu versuchen, dass Luxemburg so schnell wie möglich Lockerungsmaßnahmen vornehmen kann, aber gleichzeitig für jeden Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt das Risiko minimiert wird.

Die Strategie, die von der luxemburgischen Forschung ausgearbeitet wurde, heißt Large-Scale Testing-Strategie. D.h. das Hauptelement der Strategie ist das Testing. Weshalb gerade dieser Ansatz?

Ulf Nehrbass: Luxemburg ist wirtschaftlich ähnlich aufgestellt wie unsere Nachbarländer. Doch in einem Punkt unterscheiden wir uns wesentlich: In der Größe der Bevölkerung. Dies ermöglicht uns etwas, was in Ländern mit größerer Bevölkerung nicht möglich ist. Nämlich eine Strategie, die darauf zielt, die gesamte Bevölkerung schrittweise, in Kontingenten testen zu lassen. Dies ist eine große Chance, die wir ergreifen müssen.

Weshalb entsteht durch so viel Testen mehr Sicherheit für Luxemburgs Bürger?

Paul Wilmes: Laut neuesten Schätzungen kann man davon ausgehen, dass ca. 80% der Krankheitsverläufe bei COVID-19 asymptomatisch verlaufen. D.h. viele Menschen sind infiziert und merken es gar nicht. Sie können andere Menschen aber anstecken.

Luxemburg hat bisher schon sehr viel getestet im internationalen Vergleich, wir waren unter den Spitzenreitern. Und trotzdem haben wir bisher „nur“ Leute mit Symptomen getestet haben – weshalb man also davon ausgehen kann, dass wir bisher in etwa nur 20% der tatsächlich Infizierten gefunden haben. Wenn wir nun systematisch jedem die Möglichkeit geben, sich freiwillig testen zu lassen, dann werden wir auch mehr Infizierte finden und isolieren können bevor sie weitere Menschen anstecken. Wichtig ist auch, dass die Kontakte von positiv getesteten Personen effizient und schnell übers Contact Tracing rückverfolgt, in Quarantäne gesetzt und auch getestet werden. Nur so kann man Infektionsketten wirklich verhindern.

Das heißt wir gehen den Weg wieder Einzelne zu isolieren, im Gegenzug dann aber die Gesellschaft schrittweise wieder aus der Isolation zu lassen?

Paul Wilmes: Genau, wie dies am Anfang der Epidemie ja bereits der Fall war. Für den Einzelnen sind diese Isolationsmaßnahmen sicherlich unangenehm. Aber für die gesamte Gesellschaft ist dies wichtig und am Ende profitieren alle davon. Denn das Ziel ist ja, dass wir als Gesellschaft wieder so schnell und sicher wie möglich mehr Bewegungsfreiheiten zurückerlangen.

Ist das richtig: Sich testen lassen ist im Grunde ein Schutz für die Anderen?

Ulf Nehrbass: Ja, genau. Auch wenn ich keine Symptome habe, kann ich trotzdem das Virus in mir tragen und ansteckend sein. Wenn ich das nicht weiß, vor allem wenn der Lockdown nun schrittweise gelockert wird und meine physischen Kontakte wieder steigen, werde ich mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit andere Menschen anstecken. Wenn ich durch das Testen aber weiß, dass ich positiv bin, gehe ich in Isolation und schütze meine Mitmenschen! So wie bisher galt: „Stay Home – it could save lives“ ist es nun „Lass dich testen – it could save lives!“. Natürlich ist es aber auch für einen selbst von Interesse.

Welche Tests werden überhaupt verwendet? qPCR-Tests oder Antikörper-Tests?

Paul Wilmes: In einer ersten Phase sind es qPCR-Tests. Diese geben an, ob eine Person aktuell infiziert ist oder nicht. Flächendeckende Antikörper-Tests machen zurzeit noch wenig Sinn, da wir davon ausgehen, dass erst ein relativ geringer Anteil der Bevölkerung Antikörper aufweist. Die CON-VINCE-Studie wird uns da mehr Klarheit verschaffen. Ab einem gewissen Anteil an Immunität in der Bevölkerung werden dann Antikörper-Tests aber eine größere Rolle spielen.  

Nun haben wir in Kommentaren bisher öfters gelesen, dass die Leute sich wundern, weshalb am Anfang nur Menschen mit Symptomen getestet wurden und jetzt plötzlich alle. Was antwortest Du darauf?

Paul Wilmes: Am Anfang der Pandemie musste Luxemburg priorisieren, da es schlichtweg zu diesem Zeitpunkt noch nicht genügend Tests für alle zu kaufen gab. Daher der Fokus auf die Fälle mit Symptomen. Außerdem wurde erst nach und nach bekannt, wie viele Fälle asymptomatisch verlaufen und dass diese asymptomatischen Fälle eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung des Virus spielen. Auch wird die Effizienz der Tests immer besser. Und die Logistik, um die ganze Bevölkerung testen lassen zu können, muss erst mal organisiert werden. Wir sind also jetzt erst dazu in der Lage, diese Teststrategie umzusetzen.

Wir haben auch die Frage erhalten, was denn passiert, wenn man sich nicht testen lässt. In der Pressemitteilung stand ja, dass positiv getestete isoliert werden und negativ getestete vom Lockdown befreit werden. Was passiert mit jenen, die sich nicht testen lassen wollen, da es ja freiwillig ist.

Ulf Nehrbass: Die Befreiungen der Beschränkungen gelten für alle Personen eines Kontingents, ob sie sich testen lassen haben oder nicht, nur halt eben nicht für positiv getestete Personen. Diese sollten für 2 Wochen in Isolation. Wir hoffen aber, dass sich so viele Menschen wie möglich testen lassen. Um die Kontrolle über das Virus zu behalten und eine zweite Infektionswelle zu vermeiden, ist dies wichtig. Es ist eine große Chance, die wir hier in Luxemburg haben. Ich hoffe die Bevölkerung sieht das auch so.

Ein wichtiges Element der Testing-Strategie ist auch die Einteilung der Bevölkerung in Kontingente. Weshalb trägt dies mit dazu bei, die Sicherheit des Prozesses zu erhöhen?

Ulf Nehrbass: Hierzu muss ich einmal kurz ausholen. Normalerweise, aus epidemiologischer Sicht, wäre es ratsam, wenn wir erst dann Lockerungsmaßnahmen vornehmen würden, wenn wir wieder in einer Situation sind, wo es so wenige Infizierte gibt, dass wir jeden einzelnen Fall identifizieren und isolieren können – und auch die Kontakte jedes positiv Getesteten aufspüren und isolieren können (siehe Infobox zu den verschiedenen Phasen der Virusbekämpfung). Die Fallzahlen sind momentan jedoch noch zu hoch, um dies für die gesamte Bevölkerung tun zu können. Oder präziser formuliert: Wir können Stand heute nicht die gesamte Bevölkerung von den Beschränkungen befreien und gleichzeitig jeden einzelnen identifizieren und isolieren und auch deren Kontakte zurückverfolgen etc. Es würde noch ein paar Wochen oder Monate dauern, bis wir so weit wären. Wir wollen aber nicht so lange warten. Und das brauchen wir auch nicht. Weil wir in der Lage sind, dies schrittweise für kleinere Gruppen, also Kontingente von ca. 50.000-100.000 Menschen zu leisten. Deshalb nehmen wir uns ein Kontingent nach dem anderen vor. Innerhalb eines Kontingents schauen wir wie viele Infizierte es gibt, diese werden isoliert, deren Kontakte zurückverfolgt und auch in Quarantäne gesetzt. Durch diese Isolierungsmaßnahmen von positiv Getesteten und deren Kontakte schaffen wir ein Kontingent, das quasi virusfrei ist. Bzw. wo innerhalb des Kontingents die Behörden durch Contact Tracing wieder in der Lage sind, einzelne Personen zu identifizieren und in Quarantäne zu setzen, was wie gewünscht Phase 1 der Epidemiebekämpfung entspricht. Wir ziehen diese Phase, die wie gesagt laut unseren Berechnungen normalerweise erst so gegen Mitte Juni/Mitte Juli eintreten würde, also somit quasi zeitlich nach vorn – und können den Exit aus dem Lockdown also eher beginnen. Wir könnten realistischerweise im Schnitt ca. alle 3 Wochen ein neues Kontingent testen lassen und von den Lockdown-Beschränkungen befreien. Bis wir alle Kontingente getestet haben, würde ca. 3 Monate dauern.

Ganz wichtig also: Durch das Testen werden wir in die Lage versetzt, die dann noch verbleibenden, niedrigen Infektionen über Kontaktverfolgung zu kontrollieren. Das wird ohne Testung noch über Monate nicht der Fall sein.

D.h. so im September könnten wieder alle auf der Arbeit sein?

Ulf Nehrbass: Wenn alles gut läuft, ja. Wir müssen aber ständig die Messwerte im Auge behalten und Entscheidungen an die Situation anpassen. Hierfür werden wir zudem repräsentative Stichproben in den Kontingenten über Zeit durchführen um eine konsequente Überwachung zu garantieren.

Das Gesundheitsministerium hat ja aber angekündigt, dass dieses Contact Tracing wie zu Anfang der Epidemie bereits wieder möglich sei und praktiziert werde. Bedeutet das nicht, dass wir bereits wieder in Phase 1 sind?

Ulf Nehrbass: Wir sind momentan ja größtenteils noch im Lockdown. Dadurch haben wir das Virus unter Kontrolle. Mit Phase 1 meinen wir einen Zustand, wo kein Lockdown mehr herrscht und trotzdem die Situation unter Kontrolle ist. Soweit sind wir aber noch nicht. Ohne Lockdown wären die Kapazitäten der Behörden für die gesamte Bevölkerung ganz schnell wieder überlastet. Es besteht aber die Chance, dass wir es schaffen, wenn wir die Bevölkerung in Kontingente einteilen, die jeweils so weit wie möglich vom Virus befreien und dann ein hocheffizientes Contact Tracing durchführen. Ein schnelles und effizientes Contact Tracing ist tatsächlich ein Schlüsselelement in der ganzen Strategie.

 

Die verschiedenen Phasen der Epidemiebekämpfung

In der Epidemiebekämpfung gibt es zwei Phasen: 
 

  • Phase 1 (Containment): Die Anzahl an Infizierten ist so gering, dass die Behörden genug Kapazitäten haben, positiv getestete Personen zu isolieren, und durch Contact Tracing deren Kontakte zurückzuverfolgen und auch gegebenenfalls isolieren zu können. In dieser Situation war Luxemburg am Anfang der Epidemie.
     
  • Phase 2 (Mitigation): Die Anzahl an Infizierten übersteigt die Kapazitäten der Behörden. Nicht mehr einzelne Personen, sondern die gesamte Bevölkerung muss isoliert werden (Lockdown). In dieser Situation ist Luxemburg zurzeit (Stand: 30.04.2020).
     

Aus epidemiologischer Sicht sind komplette Lockerungen des Lockdowns erst dann anzuraten, wenn ein Land/eine Region in Phase 1 ist – und das Virus durch Identifikation und Isolation von Einzelfällen sowie Quarantäne von Kontakten unter Kontrolle gehalten werden kann.

Ok, zum Contact Tracing kommen wir später nochmal zurück. Aber vorerst mal noch zu den Kontingenten: Das klingt jetzt etwas abstrakt. Könntest Du das einmal anhand eines Beispiels erläutern?

Paul Wilmes: Ok, ein fiktives Beispiel: Stellen wir uns mal vor, die Politik würde entscheiden, dass alle Menschen, die im Finanzsektor arbeiten, ein Kontingent bilden. Dann würde in einer ersten Phase eine repräsentative Stichprobe aus diesem Kontingent ausgewählt werden. Die Größe dieser Stichprobe richtet sich natürlich nach der Größe des Kontingents, ebenso die Alters- und Geschlechtsstruktur etc. -  eben eine statistisch repräsentative Stichprobe. Diese wird dann kontaktiert und anschließend getestet. Die Resultate dieses Tests fließen dann in die Entscheidungsgrundlage für die Politiker mit ein. Ist der Prozentsatz an Infizierten ziemlich hoch, könnte die Politik z.B. entscheiden das Datum der Lockdown-Beschränkungen eventuell nach hinten zu verschieben. Auf jeden Fall sollte dann aber das gesamte Kontingent getestet werden können, ehe die Lockerungen eintreffen. Dann werden alle positiv Getesteten isoliert, deren Kontakte zurückverfolgt und in Quarantäne gesetzt. Danach können alle negativ Getetesteten aus diesem Kontingent dann zur Arbeit.

Sollte der Prozentsatz an Infizierten in der repräsentativen Stichprobe sehr gering sein, kann die Politik eventuell auch entscheiden das Kontingent von den Lockdown-Beschränkungen zu befreien und erst hinterher zu testen.

D.h. die Entscheidungen trifft immer noch die Politik, nicht die Wissenschaft?

Ulf Nehrbass: Ganz genau. Das ist sehr wichtig. Wir liefern Fakten und Messwerte, die der Politik als Entscheidungsgrundlage dienen. Die politischen Entscheidungen treffen aber nicht wir.

D.h. auch wer zu welchem Kontingent gehört, entscheidet nicht die Forschung, sondern die Politik?

Ulf Nehrbass: Richtig. Wir haben empfohlen, dass ein Kontingent aus ca. 50.000-100.000 Menschen bestehen sollte. Und wir haben der Politik Parameter genannt, die sie in ihrer Entscheidung berücksichtigen sollten, wie etwa Altersstruktur des Sektors, wirtschaftlicher Impakt des Sektors, Arbeitsbedingungen, wie etwa ob Sicherheitsabstände am Arbeitsplatz eingehalten werden können oder ob es die Möglichkeit gibt, Home Office zu machen…

Die bisherigen Kontingente waren dann also einerseits die Bauarbeiter, Handwerker, bzw. alle, die eben nun am 20. April wieder mit der Arbeit begonnen haben. Und ein zweites Kontingent sind die Lehrer und Schüler?

Paul Wilmes: Richtig. Man kann noch 3 spezielle weitere Kontingente dazuzählen. Erstens die, für die die Lockdown-Beschränkungen nie gegolten haben, wie etwa Leute, die in den Supermärkten arbeiten. Dieses Kontingent sollte retroaktiv getestet werden können. Und dann noch das Pflegepersonal und die Risikogruppen, wie sie von der „Direction de la Santé“ definiert wurden. Diesen beiden Gruppen gilt besonderer Schutz. Sie sollten in regelmäßigen Abständen getestet werden. 

In vielen Leserkommentaren wurde die Frage aufgeworfen, was denn nach dem 1. Test des gesamten Kontingents passiert. Was wenn man negativ war zum Zeitpunkt des Tests, sich danach auf dem Arbeitsplatz dann aber doch ansteckt?

Paul Wilmes: Es werden ja auch danach noch Tests gemacht, um die Ausbreitung des Virus in einem Kontingent weiter zu überwachen. Hierfür wird wieder eine repräsentative Stichprobe aus dem Kontingent ausgewählt. Diese Stichprobe wird regelmäßig getestet. Dies zeigt uns dann, ob innerhalb des Kontingents die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle ist. Zusätzlich werden die Tests für Leute mit Symptomen ja immer noch weitergeführt.

Was wenn der Prozentsatz an Infizierten steigt?

Ulf Nehrbass: Dann wird entweder wieder das gesamte Kontingent aufgerufen, sich testen zu lassen, damit wir die positiven Fälle und deren Kontakte isolieren können. Oder schlimmstenfalls muss das Kontingent wieder zurück in den Lockdown. Dieses Szenario sollten wir aber immer versuchen zu vermeiden. Je mehr Leute sich also zu Anfang schon testen lassen, desto niedriger die Chance, dass dies eintritt.

Was wäre das Risiko, wenn wir die gesamte Bevölkerung auf einmal vom Lockdown befreien würden?

Paul Wilmes: Wenn wir die gesamte Bevölkerung auf einmal vom Lockdown befreien würden, bestünde ein sehr großes Risiko einer zweiten Infektionswelle. Da das Virus sich ohne Sicherheitsmaßnahmen exponentiell verbreitet und wir doch noch eine gewisse Anzahl an Infektionen in der Bevölkerung haben, könnte diese Welle um einiges heftiger werden als die erste Welle. Denn ganz wichtig beim exponentiellen Verlauf ist die Anfangszahl an Infizierten. Je höher die Anfangszahl an Infizierten, desto schneller nehmen die Zahlen zu. Bei der ersten Welle startete die Kurve bei einem oder wenigen einzelnen Infizierten. Momentan, auch wenn wir die Fallzahlen bereits drücken konnten, gibt es mehrere Hunderte aktive Fälle, also Menschen die aktuell mit dem neuartigen Coronavirus infiziert sind (bestehend aus den bekannten, offiziellen Fällen plus die bereits erwähnte Dunkelziffer an asymptomatischen Virusträgern). Wenn die Kurve mit einigen hundert Fällen wieder exponentiell zu wachsen beginnt, wären wir ganz schnell in einem Szenario mit tausenden Infizierten und leider auch vielen Toten. Ein zweiter genereller Lockdown müsste her – was ja nicht wünschenswert wäre. Daher eben eine Einteilung in Kontingente, angepasst an die schrittweise Öffnung, wie sie die Regierung ja eh vorgesehen hatte.

Jetzt nächste Woche werden die Abiturienten und viele Lehrer wieder in die Schule zurückkehren. Viele machen sich Sorgen. Was sagst Du denen?

Ulf Nehrbass: Ich verstehe, dass sich die Leute Sorgen machen. Lockerungen des Lockdowns sind insgesamt wünschenswert, aber gehen wie ja bereits erwähnt auch wieder mit einem gewissen Risiko einher. Meine Bitte: Dass sich so viele Lehrer und Schüler wie möglich sich testen lassen. Das ist eine solidarische Aktion, die das Risiko für alle senkt. Nach 2 Wochen in der Isolation, in der ja weiter gebüffelt werden kann, ist man dann bereit zur Prüfung. Und es gibt eben keine Überraschung für eine gesamte Klasse zum Beispiel am Tag vor der Klausur. Aber wichtig ist auch die Message: Auch wenn man negativ getestet wurde, gilt es die gängigen Sicherheitsbestimmungen einzuhalten, also 2 Meter Abstand halten, regelmäßig Hände waschen, in die Armbeuge niesen oder husten, Masken tragen etc. Das sind Maßnahmen, die uns noch lange begleiten werden.  

Wenn man euren Antworten zuhört, sollen Entscheidungen ständig an die Situation angepasst werden?

Ulf Nehrbass: Genau. Dem Monitoring-System, das wir aufgebaut haben, kommt eine ganz große Bedeutung in der luxemburgischen Exit-Strategie zu. Eine ganze Gruppe an Forschern arbeitet tagtäglich in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern zusammen, um Simulationen und Messwerte zu erstellen und wichtige Parameter zu verfolgen. Wichtige Parameter sind z.B. Angaben zum Gesundheitssystem wie Anzahl an Krankenhausbetten/Beatmungsgeräte, verfügbares Krankenhauspersonal, etc., die uns von den Gesundheitsämtern bzw dem Ministerium zur Verfügung gestellt werden. Simulationen die wir dann erstellen sind z.B. Projektionen zur momentanen und zukünftigen Verbreitung des Virus innerhalb der luxemburgischen Bevölkerung (Entwicklung der Zahl der Infizierten, Immunität in der Bevölkerung, etc.). Diese Informationen stellen wir den Entscheidungsträgern zur Verfügung. Entscheidungen sollten dann immer an die jeweilige Situation angepasst werden. Je nachdem wie die Lage ist, können Lockerungen entweder etwas schneller durchgeführt werden, oder es muss eventuell wieder zurückgerudert werden – auch das müssen wir immer im Hinterkopf behalten. Wir müssen lernen mit dem Virus zu leben und dass wir uns stetig der Situation anpassen müssen.

Paul Wilmes: Hervorzuheben ist im Rahmen einer Exit-Strategie der Reproduktionswert Rt, der angibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Laufe seiner Erkrankung im Schnitt ansteckt. Dieser Wert, in Kombination mit Parametern des Gesundheitswesens, bildet eine gut nutzbare Grundlage für Entscheidungen zum Prozess der Lockerungen innerhalb der Exit-Strategie. (Mehr Infos zu Rt in der Infobox oder hier im Artikel auf science.lu)

Ist Rt > 1, steigt die Anzahl an Neuinfizierten innerhalb der Bevölkerung und es besteht die Gefahr eines exponentiellen Anstiegs. Lockerungen müssen verlangsamt werden, eventuell gar wieder restriktive Maßnahmen eingeführt werden oder schlimmstenfalls ein neuer Lockdown beschlossen werden, je nachdem wie hoch Rt über 1 liegt, bzw. wie hoch die Auslastung des Gesundheitssystems gerade ist.
 

Ist Rt < 1 steckt ein Infizierter im Schnitt weniger als 1 weitere Person an, das Virus ebbt ab. Lockerungen können eventuell etwas schneller vorgenommen werden, wenn gleichzeitig Puffer vorhanden ist, was die Kapazitäten des Gesundheitssystems anbelangt.

Um nochmal auf das Contact Tracing zurückzukommen. Weshalb ist das so wichtig?

Paul Wilmes: Es geht weiter darum die Infektionsketten zu durchbrechen. Das was das neuartige Coronavirus so schwer kontrollierbar macht, ist, dass Infizierte andere Menschen anstecken können noch bevor sie Symptome haben – bzw. entwickeln einige Infizierte gar keine Symptome. Eine rezente Studie zeigt, dass man daher mit dem Contact Tracing sehr schnell und sehr effizient sein muss. Sonst ist man dem Virus einen Schritt hinterher und es besteht wiederum das Risiko einer unkontrollierten Verbreitung.

Wie kann man Contact Tracing schnell und effizient gestalten?

Ulf Nehrbass: Das hängt einerseits von der Disziplin der Bevölkerung ab, ob sie sich dann auch wirklich an die Isolations- oder Quarantänemaßnahmen halten. Andererseits kann man eine höhere Effizienz z.B. dadurch erreichen, indem die Kapazitäten der Behörden aufgestockt werden, und diese also fähig sind, mehr manuelles Contact Tracing durchzuführen. Andererseits können Kapazitäten auch dadurch erhöht werden, und Contact Tracing auch schneller umgesetzt werden, indem zusätzlich auf GDPR-konforme Contact-Tracing-Apps zurückgegriffen wird. Wir als COVID-19 Task Force haben die Nutzung von datenschutzkonformen Contact-Tracing-Apps empfohlen und dabei hervorgehoben, dass eine europäische Lösung oder zumindest eine, die in der Grenzregion über die Grenzen hinweg genutzt werden kann, herangezogen werden sollte. Ob App oder nicht, ist aber eine Entscheidung der Politik, die wir selbstverständlich akzeptieren. Schlussendlich geht es uns auch nicht um die Technologie an sich. Das Einzige was uns wichtig ist, ist dass das Contact Tracing effizient und schnell ist – denn das ist ein Knackpunkt der Strategie. So lange wir das schaffen, ist alles gut. 

Die gesamte Testing-Strategie kostet ca. 40 Millionen EUR. Was sagst Du zu diesen Kosten?

Paul Wilmes: Der ökonomische Impakt des Lockdowns wird sich pro Monat im Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt mit einem durchschnittlichen Verlust von ca. 3200 EUR pro Einwohner Luxemburgs bemerkbar machen. Ich denke, dass somit die Testkosten von 53,59 EUR pro Person (für einen von der CNS übernommenen Test) für eine vorzeitige und sichere Lockerung des Lockdowns verhältnismäßig günstig sind.

Und zum Schluss noch eine Frage: Wie lange wird die Pandemie noch dauern?

Ulf Nehrbass: Die Epidemie wird leider wohl erst zu Ende sein, wenn ein Impfstoff oder ein hochwirksames Medikament massenweise verfügbar ist, so in schätzungsweise ca. 6-18 Monaten, oder wenn eventuell Herdenimmunität erreicht wurde. Schätzungen hierzu sind erst möglich, wenn gewusst ist, wie die Immunisierungsrate bisher in Luxemburg ausfällt, was wir ja gerade mit der CON-VINCE-Studie versuchen herauszufinden. Außerdem: zurzeit ist es auch unsicher, ob wirksame Herdenimmunität überhaupt in der Population aufgebaut werden kann, da erneute Ansteckungen mit dem neuartigen Coronavirus möglich sind. Solange kein Impfstoff verfügbar und keine Herdenimmunität erreicht wurde, müssen wir uns daher daran gewöhnen einige Sicherheits-Maßnahmen (2 Meter Abstand, regelmäßiges Händewaschen, Tragen von Masken, wenn 2 Meter-Abstand nicht eingehalten werden kann, etc.) und eventuell weitergehende restriktive Maßnahmen noch über Monate beizubehalten.

Wir danken euch für das Gespräch!

Autor: Jean-Paul (Jhemp) Bertemes

 

Die Large-Scale-Testing-Strategie im Steckbrief:

Die von der COVID-19 Task Force erarbeitete PM-Strategie zielt in erster Linie darauf, während der Lockerung der restriktiven Maßnahmen neue Infektionsketten zu verhindern damit die wichtigsten Elemente des Alltaglebens garantiert werden können ohne dass dabei die Gesundheit des Einzelnen gefährdet oder das Gesundheitswesen überlastet werden. Die PM-Strategie basiert auf folgenden 5 Elementen:

  • Konsequente Überwachung wichtiger Parameter – um die Evolution der COVID-19-Pandemie in Luxemburg jederzeit zu überwachen und um eine Basis zu schaffen, auf der über Testumfang und Einführung von Lockerungs- bzw Beschränkungsmaßnahmen entschieden werden kann.
  • Einteilung der Bevölkerung in Kontingente
  • Hohe Testkapazitäten: jedes Kontingent testen, mit dem Ziel schrittweise möglichst die gesamte Bevölkerung freiwillig zu testen mit anschließender Befreiung von restriktiven Maßnahmen für negativ getestete Personen
  • Isolierung von positiv getesteten Personen
  • Effizientes und schnelles Contact Tracing von positiv getesteten Personen und anschließende Quarantäne-Maßnahmen

Während der gesamten Dauer der Pandemie sollen strenge Hygienemaßnahmen gelten (2 Meter Abstand, regelmäßiges Händewaschen, Gesichtsmasken tragen, wenn der 2 Meter-Abstand nicht eingehalten werden kann etc.)

Durch die überschaubare Einwohnerzahl Luxemburgs ergibt sich für das Land eine außergewöhnliche Chance: Luxemburg kann für einen, im Vergleich zu den Kosten die die COVID-19-Krise auslöst, geringen Kostenpunkt, mit Hilfe einer anspruchsvollen aber logistisch realistischen Test-Strategie die gesamte Bevölkerung testen lassen – was bisher weltweit einmalig wäre. Diese PM-Strategie bietet Schutz für die Bevölkerung, eine Reduzierung der Risiken der Lockerungsmaßnahmen und einen schnelleren Übergang in einen Zustand, in dem die Gesellschaft und Wirtschaft wieder funktionieren kann.

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